Alles schien ruhig seinen Gang zu gehen. Besonders spannende Wahlen hat diesmal ohnehin niemand erwartet. Früher, da waren es immer Schicksalswahlen. So 1993, da mußte ein neuer Staat aufgebaut werden, denn mit dem Beschuß des Parlaments kurz zuvor war gleichzeitig das ganze System der Sowjets ins Wanken geraten. 1995 stellte sich die berühmte Hamletfrage: Sein oder Nichtsein für die junge russische Demokratie, über der die Todesgefahr der kommunistischen Revanche schwebte. 1999 durfte kein Fehler bei der schnellen Wahl eines neuen Präsidenten gemacht werden, denn das Land brauchte Ordnung und wieder einmal die Rettung vor dem Abdriften in die falsche Richtung. Bislang gaben stets die “äußeren” Umstände, will heißen, die kurz darauf folgende Präsidentschaftswahl, den Parlamentswahlen stets ihren dramatischen Anstrich, denn schicksalsbestimmend ist in Rußland bekanntlich nur der Präsident, nicht das Parlament. Diesmal ging es von Anfang an ohne brodelnde Leidenschaften, steht doch der Sieger der bevorstehenden Präsidentschaftswahl schon fest. Tatsächlich aber sind die Wahlen in diesem Dezember genauso wichtig wie die bisherigen, denn an ihren Ergebnissen lassen sich die Konturen des zukünftigen Parteienspektrums ablesen. Bei der nächsten Dumawahl wird es sehr viel schwieriger sein, über Parteilisten ins Parlament einzuziehen. Dafür werden es jedoch die Parteien, die es diesmal schaffen, viel einfacher haben. Es geht bei dieser Wahl also nicht nur darum, welche Parteien die nächsten vier Jahre die Dumatribüne nutzen können, sondern vor allem auch darum, welche darüber hinaus in der russischen Politik bleiben. Die staatsnahe Partei ist sich der Bedeutung der Wahl natürlich nicht erst seit heute bewußt. So wurde der Skandal just drei Wochen vor der Dumawahl aufgetischt. Die Präsidentenmehrheit in der Duma warf den Kommunisten Finanzmanipulationen vor, genauer gesagt, die Veruntreuung hoher Summen aus dem Staatshaushalt über die von einem Mitglied der KPdRF geleitete Firma “Rossagropromstroi”. Daraufhin ersuchte die Duma die Generalstaatsanwaltschaft um Klärung der Fakten. Jetzt wird die Staatsanwaltschaft die Finanzen der Kommunistischen Partei genau prüfen - und die Öffentlichkeit natürlich immer über ihre Erkenntnisse auf dem laufenden halten. Dies ist übrigens nicht der erste Schlag der kremlnahen Parteigenossen gegen den Hauptfavoriten dieser Wahlen. Über Unterschlagung und Veruntreuung bei “Rossagropromstroi” wurde schon früher gemunkelt. Davor war bereits ein Buch über die finanziellen Verstrickungen zwischen der KPdRF und Boris Beresowski, folgerichtig auch mit den von diesem Herrn finanzierten tschetschenischen Terroristen, in Umlauf gebracht worden. Die Enthüllungen verhallten jedoch relativ geräuschlos, so daß stärkerer Tobak her mußte - die Generalstaatsanwaltschaft. Welchen Druck sie tatsächlich ausüben kann und wie sich dies dann auf die Wahlergebnisse niederschlägt, wird man sehen. Vorerst bleibt festzuhalten: Wenn Ruhe in die russische Politik einzieht, dann nicht für lange. Die Stabilität, von der in den letzten Jahren so viel geredet wurde, scheint wacklig und irgendwie unecht. Und auch diese Wahlen hatten ihren großen Skandal. Daß man sich bei der “Herstellung der Ordnung” nicht auf Michail Chodorkowski beschränken wird, das wurde bereits deutlich gemacht. Die russischen Bürger schaukeln sich mit Gesprächen darüber hoch, daß die Ergebnisse der “Raubprivatisierung” revidiert werden müssen. Und der Chef der Präsidialadministration hat gewechselt, da steht also die Neuverteilung der Einflußsphären ins Haus. Der Präsident beschwichtigte die Öffentlichkeit mit der Erklärung, ein Zurück werde es nicht geben. Zur sowjetischen Vergangenheit hoffentlich nicht, doch vorerst schaffen wir es ja nicht einmal die jüngste, krisenbeladene Vergangenheit hinter uns zu lassen. Ob sie über unseren Köpfen zusammenschlägt oder an uns vorübergeht? Nur keine Panik. Noch haben wir das Problem nicht. Aber wer weiß, was uns morgen erwartet? Zum Beispiel nach der Präsidentschaftswahl? Bis jetzt ist die herrschende Gruppe noch nicht für vier weitere Jahre der Machtausübung legitimiert, den Status quo wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach aber wahren wollen. Und was kommt dann?
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