Politik

Die Annäherung an Rußland [ Abstract ]
Die Jagd auf die Oligarchen ist eröffnet [ Volltext ]
Rußland vor den Dumawahlen - wer hat Chancen? [ Abstract ]
Die Russische Orthodoxe Kirche und die Dumawahl [ Abstract ]
Tusla - Irritation in den russisch-ukrainische Beziehungen [ Volltext ]
Schwenk nach Osten - die Ukraine und die Vierer-Union [ Abstract ]
Aserbaidschan: Wie der Vater dem Sohn das Land vermacht [ Abstract ]
Fragwürdiger Einsatz - Wahlbeobachter in Aserbaidschan [ Volltext ]
Georgien: Wahlfälschungen und Proteste - überlebt der Präsident? [ Abstract ]

aus WOSTOK SPEZIAL: Aserbaidschan - Politik, Gesellschaft, Kultur
 
Außenpolitische Orientierungen [ Abstract ]
Nagorny Karabach - Vermittlungsmission und externe Akteure [ Abstract ]
Vor uns das Nichts - Flüchtlinge und Vertriebene [ Volltext ]
Innenpolitische Entwicklung seit der Unabhängigkeit [ Abstract ]
Staatsorgane und Verwaltung [ Abstract ]
Das Mehrparteiensystem - ist die Opposition stark? [ Abstract ]
NROs - Probleme und Perspektiven [ Abstract ]
Unsere Aufgaben sind der Dialog und Verhandlungen [ Abstract ]

Die Annäherung an Rußland
von
Wladimir Ostrogorski, Publizist, Berlin


Nie brachten die deutschen Medien so viel über Rußland wie im laufenden russischen Kulturjahr in Deutschland. Die neuen, aber auch die jetzt wiederholten Fernseh- und Hörfunkreportagen finden sich beinahe jeden Tag im Programm der öffentlich-rechtlichen Sender. In ihrer Gesamtheit ergeben sie ein schillerndes Bild vom großen Nachbarn im Osten. Zugleich machen sie den langen Weg der Annäherung an die russische Realität sichtbar, den die deutschen Medien seit der Wende in Rußland zurückgelegt haben.
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Die Jagd auf die Oligarchen ist eröffnet

Dr. Wladimir Miljutenko, Journalist, Moskau

Die Allmacht des Staates ist in Rußland unangetastet, dies zeigte sich einmal mehr mit der Verhaftung von JUKOS-Chef Michail Chodorkowski im November. Dem unbotmäßigen und möglichen zukünftigen Konkurrenten um die Macht im Kreml wird seine bislang wenig beanstandete kriminelle Aneignung von nationalem Eigentum angelastet. Es scheint, als würde ein Exempel statuiert, um die Oligarchen, die sich in zunehmendem Maße in die Politik einschalten wollen, abzuschrecken.

Der eine - Wladimir Putin - jagt, ...
 
Seit Anfang November erregen zwei in engem Zusammenhang stehende Ereignisse die Gemüter in Rußland. Nach den Regeln eines gut inszenierten Theaterstücks wurde der reichste der russischen Erdölmagnaten, der Chef des JUKOS-Konzerns Michail Chodorkowski, in Nowosibirsk verhaftet. Die Dramaturgie sah Männer in Tarnanzügen, den Sturm des gecharterten Flugzeugs und das Einschlagen der Tür vor, hinter der der aller Sünden dieser Welt Beschuldigte arglos schlummerte. Wenige Stunden später war er bereits nach Moskau überstellt und vom erfolgreichen Geschäftsmann zum gemeinen Sträfling geworden.

Im Westen wird man bei Verdacht auf Wirtschaftsvergehen nicht gleich ins Gefängnis geworfen, doch wer kümmert sich in Rußland schon um internationale Standards? Der Fall Chodorkowski soll andere belehren. Auf dem Fuße folgte dann die sensationelle Meldung vom Rücktritt des mächtigen Leiters der Präsidialadministration Alexander Woloschin - russischer Machiavelli, graue Eminenz, Mittler zwischen Putin und den einflußreichen russischen Geschäftsleuten. Zu diesem Schritt veranlaßten Woloschin zwei Entscheidungen, die an ihm vorbei getroffen worden waren: das Vorgehen gegen JUKOS und Putins Erklärung, daß Verhandlungen mit dem Großkapital unmöglich seien. Also mußte der Meister der Intrige, der raffinierte Stratege hinter den Kulissen, der von Boris Jelzin beauftragt worden war, darüber zu wachen, daß dessen Nachfolger - “das Jungchen” - nicht übermütig wird, den Hut nehmen.

Woloschin war zwar nicht de jure, aber de facto weit mehr als der Leiter der Putin-Verwaltung, er war der zweitwichtigste Mann im Land und wurde “Geschäftsführer ganz Rußlands” genannt. Mit seinem Rückzug ging eine Ära zu Ende, obwohl er sein Amt nur 1700 Tage ausgeübt hat. Die militarisierten Machtstrukturen sind aus dem Tauziehen mit den Geschöpfen der Jelzin-Familie als Sieger hervorgegangen. Viele aus Putins engerem Kreis bekamen das Zittern, es war klar, daß andere der Familie nahestehende Geldsäcke die Gefängnispritschen mit Chodorkowski teilen könnten.

Warum aber wurde eigentlich zur Jagd auf den Oligarchen geblasen? In Ungnade fiel Chodorkowski nach dem Treffen Wladimir Putins mit Unternehmern und Industriellen im Kreml im Februar 2003. Putin kam auf die Korruption zu sprechen und meinte, daß sie in der gegenwärtigen Situation nicht auszumerzen sei, aber zurückgedrängt werden könne, indem man den Beamten die Möglichkeit nimmt, “Geldangelegenheiten” nach eigenem Gutdünken zu regeln. Als Chodorkowski seine Zweifel anmeldete, daß alles sauber über die Bühne gegangen war, als die staatliche Ölgesellschaft “Rosneft” den Konzern “Sewernaja-Neft” für nur 600 Millionen Dollar gekauft hatte, fragte Putin ihn rhetorisch, wie denn JUKOS zu seinen riesigen Ölvorräten gekommen sei und schloß: “Jetzt ist der Ball in Ihrem Tor!” Putin stand die Verärgerung im Gesicht.

Im Sommer folgte der Bericht von Politologen aus dem Rat für die nationale Strategie, durch den sich wie einer roter Faden die Warnung vor einem bevorstehenden Komplott, einem Staatsstreich der Oligarchen zieht, die Putin stürzen, ihm seine Vollmachten nehmen, die “Machtvertikale” zerschlagen, das politische System ändern und Rußland in eine parlamentarische Republik verwandeln wollen.

.. der andere - Michail Chodorkowski wird gejagt
 
Und immer wieder tauchte im Hintergrund die Figur Chodorkowskis auf, dessen politische Ambitionen Putin sehr ernst nahm. Der “junge Löwe” wurde dem Kreml ein Dorn im Auge, denn er folgte den Herren im Kreml nicht blindlings, sondern versuchte, mit der Solidarität der kremltreuen Oligarchen zu brechen.

Der herausragend ausgebildete 40jährige Chodorkowski, der zwei Hochschulabschlüsse als Diplomchemiker und Diplombetriebswirt vorzuweisen hat, über Erfahrungen im Komsomol, in Regierungs- und in Bankstrukturen verfügt, empfahl sich Rußland nicht nur als superreicher und einflußreicher Spitzenmanager, sondern auch als bester Analytiker unter den russischen Tycoonen, vom Intellekt her nur mit Tschubais vergleichbar, dem Wirtschaftsguru der 90er Jahre.

Als Chodorkowskis Team vor acht Jahren JUKOS übernahm, hatte der Konzern drei Milliarden Dollar Schulden, davon zwei Milliarden beim russischen Staat. Für das Aktienkontrollpaket gab niemand auch nur hundert Millionen Dollar, jetzt ist sein Wert auf acht Milliarden Dollar geklettert! Das lahmende Unternehmen, das über Monate keine Löhne und Gehälter zahlen und die Technologie nicht erneuern konnte, verwandelte sich in kurzer Zeit in einen internationalen Marktführer der Erd-ölindustrie. Bei JUKOS arbeiten heute fast 200000 Leute. Nach der Fusion mit “Sibneft” rückte der Konzern bei den erschlossenen Erdölvorräten (2,7 Milliarden Tonnen) auf Platz zwei und bei der Ölförderung (100 Millionen Tonnen) auf Platz fünf der Weltrangliste auf. Der Marktwert des Konzerns nähert sich 45 Milliarden Dollar, Platz sieben weltweit. Er besitzt mit 1300 Tankstellen das größte Tankstellennetz Rußlands. Da Analytiker ab 2005 die weitere Reduzierung der Ölförderung voraussagen, entwarf man bei JUKOS ein Programm zur Nutzung von Flüssiggas.

Das Kohlenwasserstoffjahrhundert geht zu Ende. Nach Expertenmeinung haben die USA genug eigenes “schwarzes Gold” für weitere elf Jahre, Rußland verfügt nach Schätzungen von Akademiemitglied Farman Salmanow, dem Entdecker des sibirischen Erdöls, über erkundete Vorräte für 24 Jahre.

Jede dritte Tonne russischen Erdöls kommt heute von JUKOS. Der Konzern steuert fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die JUKOS-Beschäftigten haben nichts gegen Oligarchen. “Der Staat hat uns verraten und verkauft”, schimpfen sie. “Er hat uns die Arbeit genommen, Städte und Anlagen herrenlos verkommen lassen. JUKOS hat uns Arbeit gegeben, die Hoffnung auf ein würdiges Leben, Wohlstand für unsere Familien.”

JUKOS führte internationale Buchführungsstandards ein, legte seine Bilanzen und sein Vermögen offen, wurde an der New Yorker Börse notiert. Von JUKOS lernte die russische Geschäftselite das Wort Transparenz. Warum also das Huhn schlachten, das goldene Eier legt?

Der Konflikt zwischen den Oligarchen und den Regierenden weitete sich zur Zerreißprobe um die Zukunft des Landes aus.

Offen hat Chodorkowski nie nach der Macht gegriffen und Eigenwerbung stets vermieden. Doch er gründete in Rußland und den USA die Stiftung “Offene Gesellschaft”, spendete im Jahr hundert Millionen Dollar für wohltätige Zwecke. Zur Ausbildung der neuen Elite erwarb er die Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, kaufte die populäre Zeitung “Moskowskije Nowosti” und holte den im Kreml unbeliebten Journalisten Jewgeni Kisseljow als Chefredakteur dorthin.

Die spektakulärsten JUKOS-Projekte sind unter anderem: “Die Föderation - Internetbildung”, die in eigens dafür errichteten und ausgestatteten Zentren Computerkurse für über 75000 Lehrkräfte anbietet, die Einrichtung eines Lyzeums für Kinder aus Krisengebieten, Programme zur Computerausstattung von Bibliotheken auf dem Land, die Unterstützung der Jugendbewegung “Neue Zivilisation” und Zuschüsse für diverse Theater sowie das Institut für Internationale Forschungen.

Dann ging Chodorkowski an die Reform des politischen Spektrums - von gemäßigt links bis gemäßigt rechts. Mit Geld und Personal stieg er ein: bei JABLoko als Hauptsponsor, beim Bund der Rechten Kräfte als einer der wichtigsten Geldgeber, und bei der Kommunistischen Partei als Hauptsponsor mit langfristigen Vereinbarungen. Nur für die kremlnahe Partei “Einheitliches Rußland” fiel nichts ab.

Füttert ein Oligarch die Opposition, so ist das nicht einfach nur die Unterstützung politischer Verbündeter - nein, es ist eine Herausforderung der Staatsmacht.

Die Kremlkreise reagierten nervös auf die Aussicht, daß die Opposition bei den Dumawahlen die Stimmenmehrheit gewinnen könnte. Man sprach von der möglichen Übernahme des “Stimmenkontrollpakets”. Eine neue politische Kraft mit einer charismatischen, vorerst zwar noch hinter den Kulissen agierenden Führungspersönlichkeit war unerwünscht, ja sogar gefährlich.

In den Medien wurde Chodorkowski schon als möglicher Regierungschef und sogar als nächster Präsidentschaftskandidat gehandelt. In vielen politischen und wirtschaftlichen Fragen hatte er eine eigene Meinung, mit der er nie hinter dem Berg hielt. Er sprach sich für den unbegrenzten Erdölexport in die USA aus, machte sich für den Bau einer Pipeline nach Murmansk stark, um von dort aus das Öl mit Tankschiffen an die US-Westküste zu transportieren. Bekannt ist seine Unterstützung für den Bau einer Erdgasleitung aus Sibirien nach China.

Als Globalisierungsanhänger trug er sich mit dem Gedanken, eine internationale Erdöl- und Erdgasgesellschaft mit Hauptsitz in London oder New York zu gründen. Als möglicher Partner wäre Exxon/Mobil in Frage gekommen, die am Kauf von vierzig Prozent der Aktien Interesse zeigte.

Immer wieder demonstrierte Chodorkowski seine Verachtung für die Regeln, nach denen der Machtklüngel in Rußland lebt. In puncto Irak vertrat er eine andere Meinung als die Regierung. Während Putin den USA vorhielt, sie seien im Unrecht, vertrat der Ölmagnat die Ansicht, Rußland müsse sich auf die Seite der USA stellen, egal ob sie recht haben oder nicht.

Den Präsidenten erboste auch die Tatsache, daß die Dumaabgeordneten eine von ihm eingebrachte Gesetzesvorlage ablehnten, die dem Staatshaushalt einen erheblichen Zuwachs an Steuereinnahmen gebracht hätte. Bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, daß das Gesetz JUKOS geschadet hätte.

Daß Chodorkowski viel Geld für die Pflege seines Images im Westen ausgab, weckte ebenfalls Unmut. 500000 Dollar spendete er der Carnegie Stiftung, große Summen der Bibliothek des amerikanischen Kongresses und dem Modern Art Museum New York. 100000 Dollar flossen an die Veranstalter des amerikanischen Nationalen Buchfestivals, was ihm ein Foto mit der First Lady einbrachte, der Schirmherrin des Projekts. Für verschiedene PR-Kampagnen, auch im Ausland, gab er jährlich 300 Millionen Dollar aus.

Der Geduldsfaden riß Präsident Putin, als Gerüchte die Runde machten, das mächtige und unabhängige Busineß gefährde die nationale Sicherheit. Durch die sich anbahnende Allianz zwischen JUKOS und Exxon/Mobil könnte der gesamte russische Energiesektor in Abhängigkeit von den Partnern in Übersee geraten. Das wäre auch gegen die Interessen Europas, in erster Linie Frankreichs und Deutschlands.

Nun konnte nicht länger gewartet werden. Der Wahlkampf begann. Also kam das Kommando: “Faß!” Und die ganze Welt mußte erkennen, daß ein Oligarch in Rußland nicht auf dem Thron, sondern beinahe auf dem elektrischen Stuhl sitzt, nackt und schutzlos vor der Allmacht des Staates.

JUKOS klein kriegen, dies bedeutete für den Kreml, dem Großkapital die Lust darauf zu nehmen, einen real starken Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2008 ins Rennen zu schicken. Die zweite Aufgabe bestand darin, die von der Staatsmacht unkontrollierten Geldflüsse für die Dumawahl zu kappen und den eigenen Leuten die Chance zu geben, sich an der Umverteilung des Eigentums zu bereichern. Für die Oligarchen war dies das Signal: “Haltet Euch raus aus der Politik!” Der Oligarchenkapitalismus zeigte seine stalinsche Fratze. Die Gruppe, die den Machtausübenden die Wahl aufzwingt, handelt nach dem Prinzip: “Das Gesetz ist mein Wunsch, die Faust meine Polizei!” Kurz vor seiner Verhaftung hatte Chodorkowski im Gespräch mit der Zeitung “Iswestija” gesagt: “Müßte ich wählen zwischen Eigentum und Bürgerrechten, würde ich mich für die Rechte entscheiden, denn ohne sie bleibt Eigentum nicht erhalten. Meine Generation hat keine Angst mehr vor dem Staat.”

Es sieht so aus, als wäre die Verhaftung für ihn keine Überraschung und er psychisch auf die dramatische Entwicklung der Ereignisse vorbereitet gewesen. Entschieden wies der JUKOS-Chef die Möglichkeit zurück, das Land zu verlassen und zum Politemigranten zu werden. Er werde vor Gericht mit aller Kraft seine Ehre verteidigen. Um zu retten, was er aufgebaut hat, legte er seinen Posten als Aufsichtsratsvorsitzender des Konzerns nieder und konzentrierte sich auf seine Stiftung. Dann übernahm ein US-Staatsbürger die Leitung von JUKOS, einer, der keinen Treueeid auf Rußland geschworen hat.

Die Anschuldigungen klingen bedrohlich: Betrug, Steuerhinterziehung in Höhe von einer Milliarde Dollar, Urkundenfälschung. Vorerst überdenken die Großmeister im Kreml ihre nächsten Züge. Sie haben das Spiel begonnen, das den Instinkt der Masse anspricht, mit ihrem Aberglauben, daß die Oligarchen Rußland verraten. Was kümmert es sie, daß die Generalstaatsanwaltschaft an einem Tag alles zerstörte, was in Jahren aufgebaut wurde. Die Kapitalisierung der russischen Wirtschaft ging innerhalb einer Stunde um fünfzehn Milliarden Dollar zurück. Zum letzten Mal war derartiges am 12. September 2001 zu beobachten gewesen, einen Tag nach den Anschlägen in New York. Experten prognostizieren bis Ende des Jahres eine Kapitalflucht von fünfzehn Milliarden Dollar aus Rußland. Die russische Justiz bereitet sich auf eine harte Schlacht vor. Der Westen schickt seine Anwälte aus Übersee, droht damit, Chodorkowski zum “Märtyrer des Gewissens” zu machen und ihn mit dem Menschenrechtler Andrej Sacharow fast auf eine Stufe zu stellen. Es gibt Versuche, die jüdische Gemeinde der USA und Israels in die Affäre hineinzuziehen. Die russische Gesellschaft erhofft sich transparente und gerechte Gerichtsverhandlungen. Der Kreml ist daran interessiert, in der entstandenen Situation sein Gesicht zu wahren, das gute Investitionsklima zu erhalten und die Geschäftsaktivitäten nicht zu beschneiden.

Dennoch liegt dem Westen allem Anschein nach nicht sehr viel daran, für die Demokratie die Stabilität in Rußland, die sich auf die Schrankenlosigkeit militarisierter Strukturen und fortschreitende Autokratie stützt, zu gefährden.


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Rußland vor den Dumawahlen - wer hat Chancen?

von
Galina Michailowa, Direktorin des Zentrums für Politikforschung, Moskau


Die "alten" Parteien gehen mit den gleichen Spitzenkandidaten und Themen wie bei den letzten drei Dumawahlen ins Rennen
 
Am 7. Dezember geht die russische Bevölkerung zu den Urnen, um ein neues Parlament zu wählen. Insgesamt stellen sich 44 Parteien und zwanzig politische Vereinigungen zur Wahl, darunter die drei Parteien, die seit 1993 im Parteien- und Parlamentsleben aktiv sind. Die Partei der Macht heißt in diesem Jahr “Einheitliches Rußland” und wird flankiert von präsidentennahen “Reserveparteien”, die ein mögliches Wahldesaster abfedern sollen, denn mehr als die knapp 45 Prozent für Parteien, die der Macht nahestehen, dürften auch bei diesen Wahlen kaum möglich sein.
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Die Russische Orthodoxe Kirche und die Dumawahl

von
Juri Rjabych, Mitarbeiter der Abteilung für Außenangelegenheiten des Moskauer Patriarchats


Um Wähler an sich zu binden, nutzen die Parteien die Ressource Kirche
 
Die Russische Orthodoxe Kirche genießt in der russischen Bevölkerung hohes Vertrauen. Da liegt es nahe, daß Parteien und politische Vereinigungen die Kirche bei den anstehenden Parlamentswahlen zur Mobilisierung und Werbung neuer Wählerstimmen heranziehen wollen. Das Statut der Kirche verbietet eine direkte politische Unterstützung irgendeiner Partei, gesetzlich ist die Registrierung religiös orientierter Parteien verboten. Trotzdem bedienen sich die Parteien auf unterschiedliche Weise der Kirche.
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Das Tusla-Syndrom

von
Juri Durkot, Journalist, Lwiw


Der Bau eines Dammes zwischen der russischen Region Krasnodar und der ukrainischen Insel Tusla konnte erst nach einem Gespräch der Präsidenten beider Länder gestoppt werden. Doch die Spannungen steigen - Kiew bangt um die territoriale Integrität des Landes und droht mit einer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Als Ende September die Bauarbeiten am westlichen Kap der russischen Halbinsel Taman aufgenommen wurden, lag die rund 6,5 Kilometer lange und 600 Meter breite Insel Tusla in der Straße von Kertsch noch knapp vier Kilometer von der russischen Küste entfernt. Doch das Bautempo war beeindruckend - die Kipplader warfen im Minutentakt tonnenweise Erde und Gestein ab. Zwei Wochen später war der Damm bereits drei Kilometer lang. Jeden Tag wuchs er um mehrere Dutzend Meter, bis dem Eifer der Bauarbeiter rund hundert Meter vor der Insel zunächst einmal ein Ende gesetzt wurde - nach einem Gespräch zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem ukrainischen Amtskollegen Leonid Kutschma verkündete die russische Seite den Baustopp.

Keine Reaktion auf Proteste

Zunächst waren aber die Proteste ukrainischer Behörden ohne Antwort geblieben. Moskau spielte offenkundig auf Zeit und wollte die Angelegenheit herunterspielen. Der Bau des Dammes in einer Grenzregion war angeblich ohne Abstimmung mit Regierung und Präsidialamt von der Verwaltung der Region Krasnodar beschlossen worden - aus ökologischen Gründen. Der Damm solle nämlich die Küste von Taman vor den Sturmfluten schützen, die in den letzten Jahren die Region verstärkt heimsuchen. Dabei hatte der Gouverneur von Krasnodar Alexander Tkatschew zunächst betont, daß der Damm die Grenze zwischen der Krim und seiner Region nicht verletzen werde. Nur: das gesamte Projekt hat - wenn überhaupt - nur dann aus ökologischer Sicht einen Sinn, wenn der Damm die Küste der Halbinsel Taman mit der Insel Tusla verbindet und so die Meerenge schließt.

Politik oder Umweltschutz?

Doch dies ist keine Frage des Umweltschutzes mehr, auch keine der regionalen Politik. Denn Tusla ist heute aus der Sicht von Kiew ohne jeden Zweifel ukrainisches Territorium. Den offiziellen Erklärungen aus Moskau und Krasnodar glaubt man in der ukrainischen Hauptstadt inzwischen immer weniger. Vorsorglich hat Kiew Grenztruppen auf die Insel geschickt - hier kursieren hartnäckige Gerüchte, daß Rußland nicht nur den Dammbau, sondern auch die Stationierung eines Grenzpostens auf der von etwa dreißig Familien bewohnten Insel plane. Für das Außenministerium in Moskau ist der Status Tuslas zumindest nicht eindeutig klar, für nationalistische Politiker wie den Vorsitzenden des Dumaausschusses für internationale Angelegenheiten Dmitri Rogosin ist Tusla russisches Territorium.

In der Tat war Tusla früher durch eine Sandbank mit dem Festland von Taman verbunden, die Insel ist erst 1925 nach einer Sturmflut entstanden. Es geht also um die “Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit”, argumentiert man in Rußland. In der Ukraine stützt man sich dagegen vor allem auf drei Dokumente: 1941 wurde Tusla, das bis dahin administrativ zur Region Krasnodar gehörte, der Krim zugeschlagen, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls zu Rußland gehörte. Nach der Übergabe der Krim an die Ukraine durch Nikita Chruschtschow im Jahre 1954 wurde damit auch Tusla ukrainisch, bekräftigt Kiew seine Position. Der Status von Tusla wurde durch die administrative Grenzziehung zwischen Rußland und der Ukrainischen SSR von 1958 bestätigt. Auch auf den Landkarten von 1972 verläuft die Grenze über den südlichen Zipfel der Insel, allerdings ist Tusla in den letzten dreißig Jahren um einige hundert Meter kürzer geworden - das Meer spült das Land nach und nach weg.

Die Straße von Kertsch - strategische Bedeutung

Doch Umweltschutzprobleme und geschichtliche Reminiszenzen dürften in diesem Streit wohl nur eine Nebenrolle gespielt haben. Tatsächlich von Bedeutung ist nach Meinung vieler Beobachter die Kontrolle über die Straße von Kertsch, die eine natürliche Verbindung zwischen dem Schwarzen und dem Asowschen Meer darstellt. Die Schifffahrtsroute in der Meerenge verläuft zwischen Kertsch und Tusla, also durch ukrainisches Gewässer. Somit müssen russische Schiffe Durchfahrt- und Lotsengebühren zahlen. Hier unterscheiden sich allerdings die Zahlen, die beide Seiten anführen, erheblich. Moskau spricht von 170 Millionen Dollar jährlich, Kiew beteuert dagegen, daß im vergangenen Jahr nur knapp eine Million Dollar in die Kassen geflossen ist.

Rußland pocht auf eine gemeinsame Nutzung der Straße von Kertsch - dies würde zudem nicht nur das Problem der Gebühren lösen, auch Schiffen der NATO bliebe der Zugang in diese Gegend versperrt. So kann der Konflikt um die kleine Insel als Druckmittel genutzt werden - die Russische Föderation könnte beispielsweise im Gegenzug für die Einwilligung der Ukraine auf die gemeinsame Nutzung der Straße auf territoriale Ansprüche auf Tusla verzichten. Ungelöst bleibt ferner die Frage über die Aufteilung des Asowschen Meeres - Moskau hat sich bisher geweigert, die Grenze über die Wasserfläche zu ziehen.

Möglicherweise war jedoch auch der Wunsch der russischen Regierung, innenpolitische Dividende zu erhalten, für die aggressiven außenpolitischen Aktivitäten mitverantwortlich. Bekanntlich stehen in Rußland am 7. Dezember die Dumawahlen und einige Monate später die Präsidentschaftswahl an. Für den Moskauer Politologen Andrej Okara ist immerhin klar: die Initiative für den Bau dieses Dammes ist in der engsten Umgebung von Präsident Putin entstanden.

Wem der heutige Konflikt um Tusla tatsächlich politische Vorteile bringen wird, ist allerdings fraglich. Zum einen wächst in Kiew die Abneigung gegen den Druck aus Moskau. “Je geringer die Entfernung vom Damm zu der Küste Tuslas ist, desto näher sind wir an Europa”, betonte Präsident Kutschma. In der Tat könnte der Streit der Annäherung zwischen der Ukraine und der Europäischen Union einen neuen Impuls geben und den prowestlichen Politikern den Rücken stärken. Eine aktive Beteiligung Kiews an der Zusammenarbeit im Rahmen des kürzlich unterzeichneten Abkommens über den Gemeinsamen Wirtschaftsraum wird dagegen problematischer. Der Konflikt hat zudem in der Ukraine eine Welle des Tusla-Patriotismus hervorgerufen und antirussische Stimmungen in der Gesellschaft geweckt. Immerhin glaubt rund ein Drittel der Ukrainer, daß Tusla im Notfall mit Waffen verteidigt werden muß.

Doch während die Politiker streiten, arbeitet die Natur weiter. Bisher hat der Bau des Dammes wohl mehr ökologische Probleme geschaffen als gelöst. Es hat sich eine wesentlich stärkere Strömung gebildet, die nun Tag für Tag fünf Meter Land von der Insel wegspült. Die Küste von Tusla muß befestigt werden, und dies kann mehrere Millionen Griwna kosten, schätzt der Premierminister der Krim Serhij Kunizyn. Die ukrainische Werchowna Rada will von der Russischen Föderation Entschädigung verlangen, die Fronten verhärten sich weiter. Ob eine gemeinsame Kommission einen Kompromiß im Konflikt finden wird, ist im Moment noch nicht abzusehen, genauso wenig wie das weitere Schicksal des Dammes - die Winterstürme werden für ihn eine harte Probe sein.
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Schwenk nach Osten - die Ukraine und die Vierer-Union

von
Juri Durkot, Journalist, Lwiw


Trotz des Abkommens über die Vierer-Union sind die Beziehungen zwischen Moskau und Kiew angespannt
 
Im September wurde in Jalta das Abkommen über den “Gemeinsamen Wirtschaftsraum” zwischen Belarus, Kasachstan, Rußland und der Ukraine unterzeichnet. Dies stellte einmal mehr die Frage nach der außenpolitischen Orientierung der Ukraine in den Vordergrund. Sind die Annäherungen an Europa noch ernst zu nehmen oder kehrt Kiew Europa den Rücken und integriert sich im postsowjetischen Raum?
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Wie der Vater dem Sohn das Land vermacht

von
Irada Agajewa, Journalistin, Baku


Die Partei der Macht hatte sich den Wahlkampf einiges kosten lassen.
Der neue aserbaidschanische Präsident heißt Ilcham Alijew. Damit ist erstmals im postsowjetischen Raum nach einem lange vorbereiteten Szenarium die Macht in “direkter Erbfolge” vom Vater an den Sohn übergeben worden. Die Wahl selbst war begleitet von Unregelmäßigkeiten, und der Tag nach den Wahlen von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen oppositionellen Demonstranten und Sicherheitskräften. Setzt man voraus, daß auf Alijew junior die entscheidenden äußeren Einflußkräfte in der Region gesetzt hatten, muß er nun unter Beweis stellen, daß er tatsächlich die Stabilität in der Kaukasusrepublik wahren kann.
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Fragwürdiger Einsatz

von
Dr. Martina Helmerich war als Wahlbeobachterin in Aserbaidschan, Bad Soden


Als Aserbaidschan am 25. Januar 2001 in den Europarat aufgenommen wurde, feierte die Regierung Alijew dies als politischen und diplomatischen Triumph. Signalisierte die Mitgliedschaft im Europarat doch nach außen, daß die Kaukasusrepublik bei der Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft wesentlich vorangekommen sei. Die Präsidentschaftswahl am 15. Oktober 2003 war daher so etwas wie die Nagelprobe für Aserbaidschans Glaubwürdigkeit als ein sich demokratisierender Staat.

Mit der Präsidentschaftswahl hat das Land jedoch den Vertrauensvorschuß der internationalen Staatengemeinschaft verspielt. Auch wenn sich Europarat und OSZE aus diplomatischen Gründen mit offener Kritik zurückhielten und die Gültigkeit der Wahl nicht prinzipiell in Frage stellten, ist eines klar: Der Machtübergang von Präsident Heidar Alijew auf seinen Sohn Ilcham Alijew war begleitet von brutaler Gewalt, dreisten Fälschungen und einer Verhöhnung essentieller demokratischer Prinzipien. Mit blutigen Mitteln wurde die erste autokratische Dynastie im Kaukasus installiert.

Zur Präsidentschaftswahl war ein Großaufgebot internationaler Wahlbeobachter ins Land gekommen. Kurzzeitig wurden über 600 ehrenamtliche Wahlbeobachter aus 35 Ländern eingeflogen, fünfzig davon aus Deutschland. Federführend für die Wahlbeobachtung war das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE in Warschau. Das ODIHR hat in den letzten zehn Jahren eine Reihe Wahlbeobachtermissionen in Mittel- und Osteuropa organisiert.

Wahlbetrüger abschrecken

Wahlbeobachtung hat einen hehren Anspruch. Sie dient “der Kontrolle von Wahlen, indem sie deren Vorbereitung und Durchführung verfolgt und kritisch bewertet”. Potentielle Wahlbetrüger sollen durch die Anwesenheit internationaler Beobachter schon im Vorfeld abgeschreckt werden. Darin manifestiere sich das Interesse der internationalen Gemeinschaft an der demokratischen Entwicklung eines Landes und, so heißt es in offiziellen Quellen des Auswärtigen Amtes, es stelle eine “vertrauensbildende Maßnahme” dar. Eine positive Stellungnahme der internationalen Wahlbeobachter unterstreiche die Legitimität der neugewählten Regierung und trage zur Stabilität im Lande bei. Soweit die Theorie.

Zwei Monate vor dem Wahltermin in Aserbaidschan am 15. Oktober 2003 wurden 32 Langzeitbeobachter auf die Regionen verteilt, die die Vorbereitungen des Urnengangs in den Wahlkommissionen, die Medienberichterstattung und den Verlauf des Wahlkampfes untersuchen sollten. Hier liegt zweifellos eine der Stärken der Beobachtermissionen, denn kaum eine Organisation im Land selbst wäre in der Lage, eine so umfassende Vorwahlanalyse zu erstellen. Gewalt gegen die Opposition.

Das ODIHR stellte schon hierbei eine Reihe gravierender Rechtsverstöße fest. Sozusagen routinemäßig hatten die Vertreter der Opposition Schwierigkeiten beim Abhalten von Wahlveranstaltungen. Die lokalen Behörden verweigerten häufig die Genehmigungen und hinderten Menschen an der Teilnahme. Mehrere Male löste die Polizei mit Einsatz von Gewalt Wahlversammlungen auf, für die die Opposition keine Genehmigung erhalten hatte.

So wurden am 19. September 2003 vierzehn Mitglieder der Demokratischen Partei in Baku festgenommen. Am 21. September wurden zwei Wahlveranstaltungen von “Unser Aserbaidschan” mit 4000 Teilnehmern in Baku auseinandergetrieben. In mehreren Fällen wurden Mitglieder von oppositionellen Wahlkampfteams festgenommen, verhört und eingeschüchtert, sie sollten ihre politische Tätigkeit einstellen. Einige Parteiaktivisten der Opposition und ihre Familienangehörigen verloren während der Wahlkampagne ihre Anstellung im staatlichen Sektor. Das betraf vor allem Lehrkräfte an Schulen und Universitäten.

Hingegen konnte sich die Staatspartei “Neues Aserbaidschan” (YAP), die den amtierenden Präsidenten und seinen Sohn Ilcham unterstützte, der sogenannten Verwaltungsressource großzügig bedienen. YAP hielt unter anderem in Baku und größeren Städten Popkonzerte zugunsten Heidar Alijews ab. Der schwerkranke Klanchef hatte sich zunächst für die Präsidentschaftswahl aufstellen lassen, am 2. Oktober seine Kandidatur jedoch zugunsten seines Sohnes Ilcham zurückgezogen.

Presse mit Steuerverfahren mundtot gemacht

Das ODIHR analysierte auch die Medienberichterstattung. Obwohl Aserbaidschan 1998 formell die Pressezensur abgeschafft hat und Artikel 47 der Verfassung die Meinungs- und Redefreiheit garantieren, zeigte sich in der Wahlkampagne, wie sehr die Pressefreiheit in der Praxis eingeschränkt ist. Wie in anderen GUS-Staaten auch wird die Steuerbehörde als Unterdrückungsmechanismus eingesetzt. Unliebsame Sender und oppositionelle Zeitungen wurden mundtot gemacht, indem man ihnen Klagen wegen Steuerhinterziehung anhängte. Mit willkürlichen Durchsuchungen wurden Medien, die nicht auf Regierungslinie waren, eingeschüchtert. Oppositionszeitungen wurden nach Verleumdungsklagen zu hohen Geldstrafen verurteilt.

Da der Anzeigenmarkt schwach entwickelt ist, sind die Medien finanziell abhängig von Zuwendungen durch den Staat oder von politischen Gruppen. Gewalt, Drohungen und Druck auf Journalisten, etwa in Form von Drohanrufen, nahmen während des Wahlkampfes zu. Am 8. September 2003 wurde eine Gruppe von Journalisten vor dem Polizeihauptquartier in Baku von Sicherheitskräften angegriffen.

Im Meinungsbildungsprozeß spielte das Fernsehen die wichtigste Rolle. Zwar gibt es neben dem Staatsfernsehen Azeri TV noch fünf private Sender, doch selbst diese berichteten zugunsten der Regierung respektive der Alijew-Familie. Wie eine von ODIHR durchgeführte Medienanalyse ergab, widmete das Staatsfernsehen 91 Prozent seiner besten Sendezeit Ilcham Alijew. Der Rest der Sendezeit entfiel auf den Vater. Die privaten Sender füllten 72 Prozent der Prime Time mit Berichten über Vater und Sohn Alijew. Zwar kamen bei den privaten Sendern die Oppositionskandidaten öfter vor. Die bekanntesten Bewerber erhielten sechs beziehungsweise zwei Prozent der Sendezeit. Die Berichterstattung über sie war jedoch überwiegend negativ.

Besondere Kritik übte das ODIHR am exzessiven Einsatz von offiziellen Vertretern des Staates zugunsten von YAP und den Alijews. Von einem freien und fairen Wahlkampf konnte also nicht die Rede sein.

Wahlkommissionen von Staatspartei dominiert

Zur Durchführung der Wahl war das Land in 124 Wahlkreise aufgeteilt. Rund 4,3 Millionen Wähler konnten in 5200 Wahllokalen ihre Stimme abgeben. Deutschland hatte die Wahllokale mit 5000 Wahlurnen aus durchsichtigem Plastik ausgestattet - ein Symbol für das von Baku offiziell vorgegebene Ziel, faire und freie Wahlen durchzuführen. Schon bei der Zusammensetzung der Wahlkommissionen zeigten sich jedoch die Hebel für Manipulationen. Die Staatspartei YAP hatte sich die dominierende Stellung in den Wahlkommissionen gesichert. Zusammen mit den Vertretern der Kommunistischen Partei und den Unabhängigen kontrollierte sie zwei Drittel in den Kommissionen.

Die Aufgabe der Wahlbeobachterteams, die aus jeweils zwei Kurzzeitwahlbeobachtern bestanden, war der Besuch von zehn bis fünfzehn Wahllokalen am Tag der Abstimmung. Die Lokale waren von 8.00 bis 19.00 Uhr geöffnet. Danach sollten die Wahlbeobachter die Stimmenauszählung und das Erstellen der Wahlprotokolle sowie die computermäßige Erfassung in den Wahlkreiskommissionen überwachen. Den Wahlbeobachtern sollte der Zugang zu allen Wahllokalen ohne Ausnahme gestattet sein, also auch in Flüchtlingslagern, Gefängnissen und Armee-Einheiten. Die Wahlbeobachter sollten strikte Neutralität wahren und Beschwerden, so an sie herangetragen, dokumentieren, jedoch nicht aktiv in Konflikte eingreifen.

Ausschluß von Wählern

Doch es kam so wie in der Fabel vom Hasen und Igel. Kamen die Wahlbeobachter am Wahllokal an, waren die Wählerlisten schon manipuliert, unliebsame Wähler von der Wahl ausgeschlossen und zusätzliche Stimmzettel packenweise in die Urnen befördert. In manchen Wahllokalen wurde den Beobachtern der Zugang verwehrt, bei der Stimmenauszählung wurde die Anzahl der Stimmen für Alijew dreist heraufgesetzt. Der Zorn der Opposition über die “gestohlene Wahl” entlud sich am selben und darauffolgenden Tag in schweren Straßenkämpfen mit der Polizei. Die OSZE und der Europarat stellten bei dem Urnengang “erhebliche Unregelmäßigkeiten” fest. Beide Organisationen konstatierten aber daß die Wahl “generell ordnungsgemäß” durchgeführt worden sei. “Aserbaidschan hat die Chance auf tatsächlich demokratische Wahlen versäumt”, sagte Peter Eicher, der Leiter der OSZE-Beobachter.

Zum ersten Mal kam es aber zu einer Art Palastrevolution unter den Wahlbeobachtern. Weil vielen das vorläufige Statement der OSZE zu milde ausfiel, solidarisierten sich 188 Wahlbeobachter unter Federführung des polnischen Wahlbeobachters und Mitarbeiters von amnesty international Witek Hebanowski. “Die Präsidentschaftswahl in Aserbaidschan war nicht fair und die Ergebnisse stellen in keiner Weise den Willen der Wähler dar”, hieß es in einer schnell verfaßten Protestnote der Abtrünnigen.

Kritischer als die OSZE äußerte sich auch Ivlien Haindrava vom US-Institut für Demokratie in Osteuropa (IDEE), das mit 170 Beobachtern die Wahl verfolgt hatte. “Das war alles, nur keine Wahl”, sagte er mit Hinweis auf die Fälschung der Ergebnisse.

Ein Fünftel der Stimmen ungültig

In einer offiziellen Stellungnahme mußte Baku wenige Tage später zugeben, daß ein Fünftel der abgegebenen Stimmen ungültig war. Die Zentrale Wahlkommission erklärte die Ergebnisse von 694 Wahlkommissionen für ungültig - ein mehr oder weniger offenes Eingeständnis massiver Fälschungen. Statt mit knapp achtzig Prozent muß sich Ilcham Alijew mit einem offiziellen Ergebnis von 76,8 Prozent zufrieden geben - auch da dürfte noch einiges hinzugelogen sein. Das Beispiel Aserbaidschan zeigt, wie sehr die idealistische Theorie darüber, was Wahlbeobachtung leisten soll und kann, sich von der Praxis unterscheidet. Die Aussage, Wahlbeobachtung sei “ein wichtiges Instrument von Demokratisierungshilfe”, klingt vor der jüngsten Erfahrung in Aserbaidschan nahezu grotesk. Vielmehr liegt der Schluß nahe, daß Wahlbeobachtung eben nicht der Demokratisierung dient, sondern als Steigbügelhalter für autokratische Regime mißbraucht werden kann. Wahlbeobachtung dient dann der Legitimierung von Regimen, die Rechtsstaatlichkeit, Verfassung und Menschenrechte mit Füßen treten.

Auch aus der Erfahrung in anderen Ländern wurde inzwischen Kritik laut, inwiefern die Anwesenheit von Wahlbeobachtern tatsächlich zur Demokratisierung der Wahlen beigetragen hat. Die Wahlbeobachtung in der Aserbaidschanischen Republik erbrachte ein unbefriedigendes Resultat. Eine “Demokratisierungshilfe”, wie eine Wahlbeobachtungsmission idealiter definiert wird, war sie im Falle Aserbaidschan trotz des großen finanziellen und personellen Aufwandes mit Sicherheit nicht.
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Wahlfälschungen und Proteste - überlebt der Präsident?

von
Tamar Nikuladse, Journalistin, Tbilissi


Den Parlamentswahlen in Georgien am 2. November folgten Straßenproteste und Demonstrationen, zu der aufgrund massiver Fälschungen die Oppositionsparteien “Nationale Bewegung” von Michail Saakaschwili und die “Neuen Demokraten” von Surab Schwania und Nino Burdschanadse aufgerufen hatten. Nachdem die Zentrale Wahlkommission das Regierungsbündnis “Für ein neues Georgien” zum Wahlsieger erklärt hatte und die von Aslan Abaschidse gegründete “Partei der demokratischen Wiedergeburt” noch vor der Nationalen Bewegung rangiert, zeichnen sich schwere Zusammenstöße ab und ist die Zukunft des Landes infrage gestellt.
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Spezial: Aserbaidschan - Politik, Gesellschaft, Kultur
"Land des Feuers"

In dieser Ausgabe befassen wir uns im Länderspezial mit Politik, Gesellschaft und Kultur in Aserbaidschan. Die Republik im Südkaukasus ist vor allem wegen ihrer Rohstoffvorräte im Blickfeld der Öffentlichkeit, aber neben Erdöl und Erdgas hat sie mehr zu bieten, und so blickt das Spezial in seinen Themen zu diesem seit altersher besidelten Landstrich am Kaspischen Meer über den Tag und das Erdöl hinaus.




Zu den außenpolitischen Orientierungen

Interview mit Außenminister Vilajat Gulijew


Aserbaidschan ist um eine vielgestaltige Außenpolitik bemüht, die in großen Teilen auf seiner Erdölstrategie basiert und von dieser getragen wird. War das Land im Kaukasus zunächst relativ isoliert, wurde es mit den Ölverträgen zum Interessengebiet vor allem der USA. Mit der Türkei pflegt Aserbaidschan engste Kontakte, mit Rußland konnten viele Konfliktpunkte gelöst worden. Auch mit dem Iran ist Baku um Normalität in den Beziehungen bemüht.
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Nagorny Karabach - Vermittlungsmission und externe Akteure

von
Rizvan Nabijew, Doktorand, Baku, derzeit Berlin


Die Eisenbahnwaggons heizen sich in den heißen Sommerns stark auf.
Der Nagorny-Karabach-Konflikt findet keine Lösung. Die Haltungen verhärten sich zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, alle Vermittlungsversuche scheitern und müssen scheitern. Die Konfliktparteien beharren auf ihren Maximalforderungen und sind nicht zu Kompromissen bereit, die Außenakteure haben ihre eigenen Interessen in der Region. Flammt der Krieg wieder auf, könnte der gesamte Kaukasus in Brand geraten.
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Vor uns das Nichts - Flüchtlinge in Aserbaidschan

von
Britta Wollenweber, Redakteurin “Wostok”, Berlin


Die Flüchtlinge und Vertriebene in Aserbaidschan sind im Bewußtsein der Öffentlichkeit Europas kaum präsent. Und dabei ist heute etwa jeder achte Bewohner der Kaukasusrepublik ein Flüchtling oder ein Vertriebener. Im ganzen Land verteilt leben sie in Lagern, Siedlungen, Flüchtlingshäusern. Ein kaum zu schulterndes Problem für den jungen Staat.

Die Eisenbahnwaggonlager werden zum Glück nach und nach aufgelöst
Am Kiosk unterhalten wir uns ein wenig mit dem Besitzer - über den Alltag, die Bewältigung der Schwierigkeiten, den Schulunterricht, auch die anstehenden Wahlen, die Mussawat-Wahlplakate sind unübersehbar. Ein Frau kommt, fragt nach Nudeln. Ein paar Häuser weiter sitzt eine Alte mit Plastikschüsseln vor sich - Kürbiskerne in der gelben, Sonnenblumenkerne in der blauen. Gegenüber bietet jemand Tomaten zum Verkauf. Kinder rennen rufend und lachend vorbei. Eine ganz normale Situation in einem ganz normalen Dorf irgendwo in der aserbaidschanischen Provinz, könnte man denken. Aber die Frau läßt wie fast alle hier anschreiben, die Alte gibt großzügig und umsonst von ihren Kernen. Wir sind in einem Flüchtlingslager in Sabirabad.

Die Angaben auf der Internetseite von Goskomstat sind nüchtern und nackt: 850200 Flüchtlinge und Vertriebene - 392700 Männer und 457500 Frauen. 192100 Menschen kamen aus Armenien, 39000 aus Usbekistan, 1600 aus Kasachstan, 1000 aus Rußland, 616500 Vertriebene im eigenen Land. 14,4 Prozent aller Flüchtlinge und Vertriebenen sind bis fünf Jahre alt, 21,7 Prozent im Alter von sechs bis fünfzehn Jahre, 49,1 Prozent im erwerbsfähigen Alter ab fünfzehn Jahre, 14,8 Prozent stellen die Alten und Nichterwerbsfähigen. Das Komitee für Flüchtlinge und Vertriebene - eine Struktur die im Jahre 1998 per Präsidialerlaß beim Präsidenten geschaffen wurde, um alle mit den Flüchtlingen und Vertriebenen verbundenen Probleme zentral in einem Haus zusammenzufassen - gibt ein wenig andere Zahlen bekannt: 250000 Aserbaidschaner kamen aus Armenien, etwa 50000 Mesheten flohen aus Usbekistan nach Aserbaidschan, 60000 Aserbaidschaner verließen Nagorny Karabach, 600000 Menschen flüchteten aus den von Armenien besetzten Gebieten um Nagorny Karabach, etwa 100000 Aserbaidschaner verließen an Armenien beziehungsweise die besetzten Gebiete angrenzende Gebiete darunter die Autonome Republik Nachitschewan, Agstafa, Gasach, Towuz und Agdschadi. Es gibt insgesamt 1600 Lager, Siedlungen und Containersiedlungen in insgesamt 62 Städten und Regionen des Landes.

Flüchtlinge und Vertriebene - ein schmerzhaftes Kapitel, ein immenses soziales Problem mit unabsehbaren Folgen für die Gesellschaft, Hunderttausende individuelle Tragödien.

Auf dem Weg von Baku nach Sabirabad und Saatli hatte Ali Hassanow, Vorsitzender des Komitees, immer wieder auf einzelne Häuser, Häusergruppen, Blockhaussiedlungen und neue Baustellen verwiesen. Sichtbar ist - die Vertriebenen und Flüchtlinge sind überall. Aber deutet sich hier vielleicht ein neues Herangehen an die Flüchtlingsproblematik an? Will man nach all den Jahren - die Flüchtlinge aus Usbekistan und Armenien kamen bereits zu Sowjetzeit - nun versuchen, sie stärker in die Gesellschaft zu integrieren? Das heißt reale Ansiedlung und nicht nur provisorische Unterbringung? Nein, das habe ich falsch verstanden, da stehen die Flüchtlinge und Vertriebenen und ihr Wunsch zurückzukehren vor. Aber die Lebenssituation der Menschen soll verbessert werden.

Die großen Profite aus dem Ölreichtum des Landes fließen noch nicht. Aber der nationale Erdölfonds wurde gegründet, in dem Gelder aus dem Erdölgeschäft zur Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und zur Lösung sozialer Aufgaben akkumuliert werden. Bis zum 1. Juli 2002 hatte man 584 Millionen Dollar angespart, Mitte 2003 waren es bereits 780 Millionen Dollar. 65 Millionen Dollar wurden für die Jahre 2000 bis 2002 für die Linderung des Flüchtlings- und Vertriebenenproblems bereitgestellt. Statt Zeltlager menschenwürdige Unterkünfte, Lebensmittelzuteilungen und finanzielle Unterstützungen.

1400 Häuser wurden für Menschen aus Armenien fertiggestellt, 320 Sammelunterkünfte dienen für Flüchtlinge, 1300 Häuser wurden in Fizuli und Aghdam übergeben, 3500 Unterkünfte wurden in Bilasuwar gebaut, um fünf Zeltlager in der Region auflösen zu können. Bis Dezember 2002 wurden etwa 6500 Häuser gebaut, um die Flüchtlinge zeitlich befristet unterzubringen. Einigen Familien wird Land und ein Garten am Haus sowie ein Hektar Land pro Familie in der Umgebung ihrer Ansiedlung zur Verfügung gestellt. Man gibt sich keinen Illusionen hin, die Flüchtlinge angesichts der Bodenhaftigkeit der aserbaidschanischen Landbevölkerung wirklich neu verwurzeln zu können. Sie wollen zurück in ihre Häuser, auf ihren Boden.

Alle Flüchtlinge wollen zurück in ihr Dorf, ihr Haus
In Baku hatte ich zwei Flüchtlingshäuser besucht - während das eine in einem just erschlossenen Industriegebiet etwas außerhalb Bakus lag, fand sich das andere mitten in der Stadt - ein nicht ganz fertiggestellter Neubau, die Wände zwischen den tragenden Wänden aus Holz gezimmert, ein Windschutz quasi - einfache Betonsteine aufeinandergesetzt, die Fensteröffnung offen. Kein Problem jetzt im September, es ist noch warm, im Winter bringen die Menschen Plastikplanen an. Nicht immer gibt es Strom, kein Gas. Auf zehn Quadratmetern sechs Menschen - mal weniger mal mehr.

Nun also Sabirabad - ein ehemaliges Zeltlager. Heute, nach zehn und mehr Flüchtlingsjahren gibt es teils größere, teils kleinere Lehmhäuser, säuberlich sind die Grundstücke abgeteilt, man ist zusammen, aber doch getrennt. Viele der Häuschen sind nicht wetterbeständig, ein heftiger Regen und die Mauergebilde sacken ab. Vier Quadratmeter der Schlafraum für die Eltern und fünf Kinder, davor ein provisorischer Schutz für die Kücheneinrichtung, der September ist in diesem Jahr heiß, man lebt auf dem Hof, aber der Winter kommt, mit kalten Winden, Regen, vielleicht sogar Schnee. Eines der schon besseren Lager - nur das ein oder andere Zelt steht noch, als Erinnerung an die Jahre, die man auf dem nackten festgestampften Boden unter der Plane verbrachte. Heute sind es also Lehmhäuser, in Straßenzügen angelegt, manche haben eine Hausnummer, die Moschee findet sich direkt am Lagereingang, hier befindet sich auch das Teehaus, in dem alte Männer sitzen, stumm ihren Tee schlürfen. Es gibt den ein oder anderen Kiosk, wie den, den wir besucht haben. Verzweifelt ist man um Normalität in der Nichtnormalität bemüht.

Vor einem Haus steht ein Auto mit Taxischild, was läßt sich hier verdienen, die Landbevölkerung ist arm. Am zentralen Platz dann die Schule - eingeschossige kleine Häuser in Reihe, jedes Haus ein Klassenraum, der Kindergarten ist großzügig, am Haus ein Schild mit den Namen der Erdölgesellschaften, die dafür Geld gegeben haben, das Gemeindehaus. Unterrichtet wird ab der ersten Klasse. Das sind die realen Fortschritte. Denn in den ersten Jahren gab es keinen Unterricht für die Flüchtlingskinder. Ein ungeheures Problem, was sich für die Zukunft auftat. Die Menschen halfen sich selbst, die Mütter brachten ihren Kinder das Schreiben bei - mit dem Lesen war es schwieriger, wo sollten die Bücher herkommen? Heute geht man dieses Problem gezielt an. Die Erstklässler haben wie alle Erstklässler in diesem Jahr auf Erlaß des Präsidenten einen Schulranzen, ein Federmäppchen mit Stiften und anderen nützlichen Dingen sowie Schreibhefte bekommen. Es gibt auch Schulbücher. Zu sehen, daß ihre Kinder Hunger haben, weil es häufig nur Brot, Tomaten und Teigwaren gibt, aber keine Milch oder andere Milchprodukte, kein Fleisch, kein Obst, das ist schlimm für eine Mutter, einen Vater. Aber darüber hinaus zu wissen, daß ihre Kinder keine Perspektive haben, wenn sie keine normale Ausbildung bekommen, das war das Unertragbare, das die Eltern lange Jahre aushalten mußten. Von daher ist die Schule schon eine Hoffnung.

Der Alltag? Der Alltag ist die Ernährung der Familie, das Wasserholen, wenn es Wasser gibt, zumeist morgens und abends, das Wäschewaschen. Es gibt Lebensmittelzuteilungen: Mehl, Zucker, getrocknete Bohnen, Tee. Auch Geldzuteilungen gibt es pro Kopf der Familie und ein Extrageld für jedes Kind, insgesamt haben die Familien vielleicht jeweils dreißig Dollar. Die meisten Flüchtlinge kommen aus ländlichen Gebieten - die meisten sind Bauern oder Landarbeiter. Warum sie nicht selbst etwas anbauen - da ist der hier in der Region salzige Boden. Die Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen und Flüchtlingen ist immens hoch. In den Städten können sie sich durchschlagen, betreiben Handel. Aber hier auf dem Land?

Ein großes Problem sind die hygienischen und sanitären Bedingungen. Für zwanzig Häuser eine Toilette, zwei Badehäuser, die ein- bis zweimal in der Woche geöffnet sind. Krankheiten verbreiten sich unter diesen Bedingungen naturgemäß sehr schnell. Tuberkulose, auch Malariafälle, viele Kinder sind unterernährt, ein Virus - und sei es nur ein einfacher Magen-Darmvirus - verbreitet sich epidemieartig im ganzen Lager. Medikamente sind schwer zu bekommen, zur normalen Ausstattung der Lager gehören sie nicht. Viele internationale Organisationen haben ihre Hilfe eingestellt, auch weil es Unregelmäßigkeiten mit der humanitären Hilfe, geschweige den Finanzmitteln gab. Zum Glück, die Eisenbahnwaggonlager werden aufgelöst. Eine lange Reihe Güterwaggons steht noch auf den Abstellgleisen in Saatli, jeder Waggon eine Familie. In den heißen Sommern heizen sich die Waggons auf, sechzig Grad Celsius - manchmal mehr. Im Winter sind es Minustemperaturen - bis minus zwanzig, dreißig Grad. Wie da leben? Alle fünf Waggons steht ein Plumpsklo. Manche Familien haben sich eine Art Vorbau gebastelt - Küche und Speisezimmer. Viele sitzen unter den Waggons - da ist Schatten. Zwischen den Waggons hocken die Frauen zusammen - sie backen Lawasch. Stapelweise, vielleicht sind es schon hundert, gar zweihundert dünne Fladen. Jedem von uns wird eines mit Schafskäse gefüllt in die Hand gedrückt. Da zeigt sie sich wieder diese unbenehmbare Gastfreundlichkeit - etwas abzugeben, etwas anzubieten, auch wenn man selber nur das wenigste hat. Und es zeigt das Bemühen um Normalität.

Und die Stimmung. Alle wollen zurück. Sie reden von Fizuli, von Latschin, Suscha, den ungezählten Dörfern und Häusern, die in den besetzten Gebieten leerstehen. Aber ist da Hoffnung, daß sie wirklich zurückkehren werden? Niemand weiß wie viele Landminen es in den Grenzgebieten und den besetzten Gebieten gibt, niemand weiß wie viele Häuser zerstört und wie viele noch bewohnbar sind. Und wenn sie hier neu anfingen, sich in einer anderen Gegend niederließen? Mir kommen die Zeilen von Rafael Husseinow in den Sinn: Wir fliehen vor dem Tod, lassen unser Leben zurück, fliehen aus unserer Vergangenheit, lassen unsere Zukunft dort. Flucht - Angst, Blut und Tod liegen hinter uns, aber da ist nur das Nichts vor uns.

Nein, alle halten fest an der Hoffnung, irgendwann doch einmal zurückkehren zu können. Ein Zehntel der Bevölkerung ist entwurzelt, aber sie leben mit der Hoffnung auf Rückkehr.
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Innenpolitische Entwicklung seit der Unabhängigkeit

von
Mubaris Gurbanly, Abgeordneter des Milli Medschlis, Baku



Aserbaidschan stand nach Erhalt der Unabhängigkeit wie die anderen postsowjetischen Staaten vor der Aufgabe der Nationalstaatsbildung. Der Krieg mit Armenien um Nagorny Karabach, der bis heute nicht gelöst ist, verschärfte die Situation. Die menschlichen, materiellen und finanziellen Verluste sind immens. Jedoch kann sich Aserbaidschan auf seinen Erdölreichtum stützen. Unter Präsident Heidar Alijew ist es gelungen, Investoren ins Land zu locken. Man hofft, daß die Entwicklung des Erdölsektors auch den anderen Wirtschaftsbranchen Impulse geben wird.
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Staatsorgane und Verwaltung in Aserbaidschan

von
Ali Husseinow, Vorsitzender des Ständigen
Ausschusses des Milli Medschlis für Fragen der Rechtspolitik und des Staatsaufbaus, Baku



Aserbaidschan hat sich für ein präsidiales Modell der Verwaltung und Lenkung des Staates entschieden. Der Präsident ist Staatsoberhaupt und Leiter der Exekutive zugleich. Das Parlament hat legislative und Kontrollfunktionen, wobei besondere Wichtigkeit in diesem Zusammenhang die Bestätigung des Haushaltes und die Kontrolle seiner Erfüllung hat.
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Das Mehrparteiensystem in Aserbaidschan - ist die Opposition stark?

von
Aydin Mirsa-Sade, Abgeordneter des Milli Meschli, Baku



In Aserbaidschan hatte sich mit der Volksfrontbewegung bereits zu Sowjetzeiten eine starke politische Opposition gegen die herrschende KP gebildet. Nach Erhalt der Unabhängigkeit gründeten sich neue Parteien, die unterschiedliche politische Orientierungen vertreten und um die Gunst der Wählerschaft ringen. Heute ist die Partei “Neues Aserbaidschan”, auf die sich Präsident Alijew stützt, die stärkste Partei im Lande. Die Opposition läßt sich grob in drei Blöcke teilen, nämlich die liberal-demokratische, die radikale und die linke Opposition.
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NROs - Probleme und Perspektiven

von
Ilgar Ilkin, Pressesprecher des NRO-Forums, Baku



Etwa 2040 Nichtregierungsorganisationen gibt es in Aserbaidschan, von denen 1590 offiziell registriert sind. Um dem NRO-Sektor neue Impulse zu geben, hat sich das NRO-Forum gegründet. Man will Arbeiten zielgerichtet bündeln und die Arbeit der einzelnen NROs auch in den Regionen und zwischen unabhängigen NROs stärker vernetzen.
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“Unsere Aufgaben sind der Dialog und Verhandlungen”

Mit Rafig Alijew,
Vorsitzender des Komitees für die Arbeit mit den Religionsgemeinschaften,
sprach Britta Wollenweber in Baku



Im Jahre 2001 wurde auf Erlaß des Präsidenten das Komitee für die Arbeit mit den Religionsgemeinschaften gegründet, das seine Aufgabe vornehmlich in der Gewährleistung gleicher Bedingungen für alle Religionsgemeinschaften und in der Moderation des Dialogs und der Verhandlungen zwischen den Konfessionen sieht. Keine leichte Aufgabe, angesichts der Vielzahl der in Aserbaidschan aktiven Konfessionen.
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