Die Opposition in Belarus - fremd im System
von Nikolai Statkewitsch, Vorsitzender der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei, Minsk
Am 9. September wurde in Belarus ein neuer Präsident gewählt. Laut den amtlichen Angaben erhielt Präsident Lukaschenko mehr als 75 Prozent der Wählerstimmen und sein stärkster Konkurrent - der gemeinsame Kandidat der breiten Koalition Wladimir Gontscharik - über fünfzehn Prozent. Sergej Gaidukewitsch, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei - der belarussischen Version der russischen Schirinowski-Partei - mußte sich mit einigen wenigen Prozenten begnügen. Die Wahlergebnisse waren ein wirklicher Schock. An die Echtheit der Ergebnisse glaubt die Mehrheit die Belarussen nicht. Die OSZE hat die Wahl nicht als demokratisch anerkannt. In vielen Teilen der Gesellschaft wird nun gefragt: War dieses Ergebnis vorbestimmt, oder wäre es zu vermeiden gewesen? Hat die Opposition die richtige Strategie gewählt? Hat sie wirklich alle Möglichkeiten wahrgenommen? Die demokratischen Kräfte dürfen diesen Fragen nicht ausweichen und müssen darauf Antworten geben.
Die belarussische Opposition hatte sich für die effizienteste der möglichen Vorgehensweisen entschieden: Sie hatte sich vereinigt. Mit Rücksicht auf die schwachen und nur wenig bekannten, von der Macht zudem ausgegrenzten politischen Parteien war die Vereinigung aller vorhandenen Kräfte ganz natürlich. Die Vereinigung der Parteien mit ihren unterschiedlichen und in Teilen rivalisierenden Ideologien bedeutete jedoch nicht unbedingt, daß auch ihre Anhänger geeint wurden. Man brauchte eine Person, die für die gesamte Protestwählerschaft - "von den Kommunisten bis hin zu den Nationalisten" - wählbar wäre. Dieser Kandidat mußte einige Kriterien erfüllen: er mußte parteilos sein, durfte also nicht mit einer bestimmten Ideologie verbunden werden. Da die Wahlen in den Regionen vollkommen von der örtlichen Nomenklatura kontrolliert werden, mußte der Kandidat der vereinigten Opposition ein "Mann" der Nomenklatura sein. Da Rußland die belarussische Politik maßgeblich beeinflußt, mußte der Kandidat der Opposition zudem für die russische Führung akzeptabel sein. Die Anforderungen an den gemeinsamen oppositionellen Kandidaten waren somit formuliert: Ein unabhängiger, für die Nomenklatura akzeptabler Kandidat, der sich loyal gegenüber Rußland verhält und die Rückkehr der Republik hin zur Demokratie garantiert. Die Wahl der Taktik Gleich vier Politiker meldeten sich als mögliche Anwärter für die Rolle des gemeinsamen Kandidaten der Opposition. Es waren der Vorsitzende des belarussischen Gewerkschaftsbundes Wladimir Gontscharik, der ehemalige Leiter des Gebiets Grodno Semjon Domasch, der ehemalige Verteidigungsminister Pawel Koslowski und der ehemalige Ministerpräsident Michail Tschigir. Die Opposition hatte sich darauf verständigt, nur einen einzigen Kandidaten zu nominieren. Mit diesem Problem befaßte sich fast sechs Monate lang das Bündnis der rechten Parteien und Organisationen, der Koordinationsrat der demokratischen Kräfte - allerdings erfolglos. Im Vorfeld der Wahlkampagne überwog die Haltung, daß der gemeinsame Kandidat erst dann bestimmt werden sollte, wenn alle Kandidaten offiziell registriert waren. Die Befürworter dieses Vorgehens argumentierten wie folgt: Jeder Anwärter muß mindestens 100000 Unterstützerunterschriften sammeln, um überhaupt registriert zu werden. Die Kandidaten und ihre Mannschaften sollten also ihre Leistungsfähigkeit zeigen. Zudem würden die gesammelten Unterschriften von den von den Behörden zusammengesetzten Wahlkommissionen nach achtzehn Kriterien analysiert. Die Opposition hatte es nicht geschafft, auch nur einen ihrer Vertreter in die Kommissionen zu entsenden. Aber noch etwas war klar: Je mehr Anwärter es für die Registrierung gab, desto höher waren die Chancen, daß wenigstens einer von ihnen tatsächlich registriert würde. Und je mehr Wahlkampfmannschaften Unterschriften für ihren Kandidaten sammeln würden, desto mehr wahlberechtigte Bürger würden erfahren, daß es eine Alternative zur gegenwärtigen Macht gibt. Registrierung der Kandidaten 21 Anwärter - Alexander Lukaschenko nicht eingeschlossen - ließen ihre Initiativgruppen, das heißt Menschen registrieren, die berechtigt waren, Unterschriften für die Präsidentschaftskandidatur zu sammeln. Die meisten dieser Gruppen waren natürlich viel zu klein und hatten keine Chancen, die notwendigen 100.000 Unterschriften zu sammeln. Aber diese Gruppen besuchten Millionen Wähler und sammelten unter den insgesamt 7,3 Millionen Wahlberechtigten mehr als 1,3 Millionen Unterschriften. Die Unterschriftensammlung war eine starke mobilisierende Kampagne, aber seitens der Opposition leider die einzige effizient durchgeführte Phase des Wahlkampfes. Mehr als 100.000 Unterschriften wurden nur von vier Kandidaten eingereicht: Lukaschenko sammelte mehr als 400.000 Unterschriften, Gontscharik etwa 200.000, Domasch mehr als 160.000 und Gaidukewitsch über 130.000 Unterschriften. Die Gontscharik-Mannschaft berücksichtigte, daß ein Kandidat auch aufgrund einer bestimmten "Quote" von fehlerhaften Unterschriften von der Wahl ausgeschlossen werden konnte, und legte aus diesem Grunde nur 120.000 geprüfte Unterschriften zur Registrierung vor. Andere Anwärter hingegen reichten praktisch alle gesammelten Unterschriften ein.
Die Zahl der offiziell registrierten Initiativgruppen und die Zahl der gesammelten Unterschriften haben die realen Möglichkeiten und das Potential der belarussischen Parteien verdeutlicht. Es zeigte sich, daß die realen Kräfte der belarussischen Opposition links von der Mitte konzentriert sind. Vor diesem Hintergrund wurde das linkszentristische Bündnis "Für soziale Wandlungen" gebildet, der die Parteien, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Organisationen sozialdemokratischer Orientierung beigetreten sind. Verständigung auf den gemeinsamen Kandidaten Noch während der Unterschriftensammlung unterzeichneten die vier unabhängigen Kandidaten und der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Sergej Kaljakin ein Abkommen darüber, sich untereinander und eigenständig auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Unter dem Druck der Opposition wurde dieses Abkommen am 21. Juli realisiert. Die "Fünf" nominierten Gontscharik als Kandidaten. Vor der Registrierung am 14. August wurde dann ein Abkommen unterzeichnet, mit dem eine breite bürgerliche Koalition gebildet wurde. Diese Koalition setzte sich aus sieben Kandidaten und neun diese Kandidaten unterstützenden Parteien zusammen. Domasch wurde im Falle eines Wahlsieges das Amt des Ministerpräsidenten garantiert. Dies war das erste Mal auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, daß die Opposition bei einer Wahl als Einheitsfront auftrat. Bis zum Wahltag blieben jedoch nur noch dreieinhalb Wochen. Agitationskampagne Gontscharik war ein für Lukaschenko sehr unangenehmer Herausforderer. Er konnte nicht wie Semjon Domasch mit der auch in der Bevölkerung unpopulären Belarussischen Volksfront in Verbindung gebracht beziehungsweise als Agent des Westens dargestellt werden, der die Nomenklatura aus dem politischen Prozeß ausschalten will. Die staatlichen Medien - Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen - übertrafen sich jedoch selbst. Sobald die Belarussen ihr Fernsehgerät einschalteten, sahen sie laufend Sendungen über die ständige Sorge Lukaschenkos um den Wohlstand der Bevölkerung und über die gemeine und käufliche Opposition, die das Land ins Chaos stürzen will. Was aber hatte der Stab des gemeinsamen Kandidaten dieser Kampagne entgegengesetzt? Er arbeitete leider ineffizient. Die aufwendigen, sich allerdings nicht an konkrete Adressaten wendenden Kampagnen, die die rechten Organisationen nach ähnlichem Muster wie in anderen Ländern durchführten, berücksichtigten die örtlichen Realitäten nicht. Was wir erlebten, war keine Wiederholung der analogen jugoslawischen oder slowakischen Kampagnen, sondern nur deren Imitation. Die verschwundenen Politiker, auf die die Berater des vereinigten Wahlkampfstabes setzten, bewegten real nur eine Minderheit der Gesellschaft. Nach der Vereinigung hatte sich der Wahlkampfstab von Wladimir Gontscharik zahlenmäßig verfünffacht. In gleichem Maße verminderte sich jedoch auch seine Effizienz. Der Beginn der Agitationskampagne des Oppositionskandidaten wurde um zwei Wochen hinausgezögert. Und als die Kampagne dann letztendlich angelaufen war, schaltete das Regime auf den Repressionsmechanismus um - dies reichte von der Beschlagnahmung unabhängiger Zeitungen, den Übergriffen der Miliz auf die regionalen Büros des gemeinsamen Kandidaten, der Verhaftung von Wahlkämpfern und Beschlagnahmung von Zeitungen und Flugblättern bis hin zu Einschüchterungen der Aktivisten. Ungeachtet der offenbaren Fehlschläge der Opposition und des Schmutzes, mit dem der gemeinsame Kandidat beworfen wurde, war jedoch das Protestpotential so groß, daß die Zustimmung zu Gontscharik am Ende des Wahlkampfes bei über vierzig Prozent lag. Das Rating von Lukaschenko war zweifellos höher, lag jedoch nicht über fünfzig Prozent. Die Abstimmung Nach einem sehr aggressiven, schmutzigen und unfairen Wahlkampf hätte sich Lukaschenko eine ehrliche Stimmenauszählung leisten können, da er gute Erfolgschancen hatte. Er ließ dies jedoch nicht zu.
In den Wahllokalen wurde am 9. September die Stimmabgabe praktisch ideal organisiert. Gleichzeitig aber wurde die Stimmabgabe mit tragbaren Urnen direkt bei den Wählern durchgeführt. Auf dem Land verlief dieser Prozeß ohne Beobachter und nur in Anwesenheit der örtlichen Kommissionsvorsitzenden - massenweise wurden so Stimmen "abgeholt". Besonders bemerkenswert war jedoch die Stimmenauszählung selbst. In der Gesetzgebung ist das Recht der Beobachter, die Stimmenauszählung direkt zu kontrollieren, nicht festgeschrieben worden. Die Leiter der Wahlkommissionen gestatteten den Beobachtern in der Regel nicht einmal, nahe an den Tisch zu kommen, auf dem die Wahlzettel ausgezählt wurden. Die Auszählungsergebnisse wurden nicht bekanntgegeben. Die offiziellen Ergebnisse wurden den Beobachtern erst Stunden nach der Auszählung mitgeteilt. So gab es keine reale Stimmenauszählung, es gab nur eine Imitation der Stimmenauszählung, bei der jedes - vorgegebene und erwünschte - Ergebnis erzielt werden konnte. Die Wahlbeobachter Das unabhängige System der Wahlbeobachtung war primär nicht auf die Verhinderung von Verstößen, sondern auf deren Feststellung ausgerichtet. Personelle Basis der unabhängigen Beobachtung waren wieder die wichtigsten Oppositionsparteien. Die Leiter des Beobachtungssystems forderten bei den Parteien unabhängige Beobachter an und wiesen diesen dann aber die Rolle "unabhängiger" Statisten zu. In den wenigen Fällen, da die Beobachter Unnachgiebigkeit zeigten und ungeachtet einer angedrohten Verhaftung eine öffentliche Stimmenauszählung durchsetzten, fielen die Wahlergebnisse anders aus. Einen Tag vor der Wahl strichen die Machtorgane ein Viertel der Beobachter aus den Registrierungslisten. Damit wurden in das ohnehin lückenhafte Beobachtungssystem neue Breschen geschlagen. Der Versuch, die Stimmen parallel auszuzählen, ist gescheitert. Die Initiatoren dieser Idee ließen aufgrund von Drohungen davon ab, die Wähler unmittelbar nach dem Gang zur Wahlurne zu befragen. Eine parallele Berechnung aufgrund der amtlichen Angaben der Wahlabschnittskommissionen, die wie oben beschrieben erlangt wurden, hatte schon gar keinen Sinn. Niemand kennt heute in Belarus die realen Wahlergebnisse. Ursachen des Scheiterns Die belarussische Opposition ist seit 1996 systemfremd. Dies bedeutet, daß sie sich außerhalb aller Machtbereiche befindet. Daher kämpfte der Oppositionskandidat nicht gegen Lukaschenko, sondern gegen die gesamte Staatsmaschinerie. Das Parlament verabschiedete raffinierte, aber undemokratische Gesetze. Die regionalen Behörden entsandten Vertrauensleute in die Wahlkommissionen. Der Geheimdienst spionierte und verfolgte die Handlungen und Pläne des Wahlkampfstabes des Oppositionskandidaten. Das staatliche Fernsehen und der Rundfunk waren bestrebt, Gontscharik in Mißkredit zu bringen. Die Miliz verhaftete Wahlkämpfer und beschlagnahmte Wahlkampfmaterial. Ein Eingreifen seitens Rußlands hätte diese Maschinerie zerstören können. Die russische Führung unterstützte jedoch die herrschende Macht. Die belarussische Nomenklatura wiederum hat ihre fehlende Solidarität mit Gontscharik und den Leitern seiner Wahlkampagne gezeigt. Fazit: Es gibt keine Chancen auf den Sieg bei der Präsidentschaftswahl, wenn wenigstens dreißig Prozent der Wahlberechtigten konsequent das Regime unterstützen und die Staatsmaschinerie bereit ist, gegen die Opposition zu arbeiten. Wenn wir also künftig wirklich eine Chance haben wollen, muß sich die Opposition an allen, auch bereits im vorhinein ungleichen Wahlkampagnen beteiligen, sie als Agitation für den alternativen Entwicklungsweg und zur Kritik an den Handlungen des Regimes nutzen. Wir müssen versuchen, bei den Wahlen auf niedrigerer Ebene zur Macht vorzustoßen. Wir müssen hart arbeiten, wir brauchen Zeit und Toleranz.
Frage: Herr Jawlinski, Sie sind heute vermutlich der härteste Gegner der Einfuhr von abgebrannten Kernbrennstoffen nach Rußland. Nachdem die Gesetze, die die Einfuhr erlauben, die Staatsduma passiert haben, haben Sie die Vorbereitung eines Referendums über diese Frage angekündigt. Wie weit sind die Vorbereitungen gediehen?
Frage: Wann, denken Sie, wird das Referendum durchgeführt, und wie groß sind die Erfolgschancen? Jawlinski: Wir haben uns zum Ziel gesetzt, mehr als zwei Millionen Unterschriften zu sammeln und der Zentralen Wahlkommission gemeinsam mit dem Antrag für ein Referendum frühestens im Frühjahr 2002 vorzulegen. Dies ist ein ungemein arbeitsintensiver Prozeß. In den letzten acht Jahren haben wir bekanntlich fünfmal Unterschriften gesammelt und jeweils die notwendige Unterschriftenzahl deutlich überschritten. JABLoko versteht es, Unterschriften zu sammeln. Diesmal sammeln wir sie zudem noch mit unseren Verbündeten, also mit anderen demokratischen und ökologischen Organisationen. Mindestens achtzig Prozent der Bürger - dies ergeben Umfragen, in Wirklichkeit sind es jedoch sogar noch mehr - wenden sich kategorisch gegen die Einfuhr atomarer Abfallprodukte nach Rußland. Der Präsident sagte einmal: "Wir und das Volk irren uns vermutlich". In diesem Fall irrt sich die Bevölkerung ganz sicherlich nicht. Die Meinung der Menschen muß unbedingt berücksichtigt werden. Frage: Befürchten Sie nicht, daß sich die Erfahrung des nichtstattgefundenen Referendums, das seinerzeit die demokratischen Kräfte initiiert hatten, wiederholen könnte? Damals hatte die Zentrale Wahlkommission einen großen Teil der eingereichten Unterschriften für ungültig erklärt. Jawlinski: Wir verstehen natürlich, daß die Vorbereitung massiv behindert und das Referendum sogar gestoppt werden könnten. Andererseits setzen wir auf ein objektives Vorgehen der Zentralen Wahlkommission bei der Prüfung der gesammelten Unterschriften und bei der Zusammenfassung der Ergebnisse des Referendums. Wir sind uns selbst sicher und wir zweifeln auch nicht an unseren Bürgern. Die laut Gesetz benötigten zwei Millionen Unterschriften werden wir sammeln. Wir werden vorschlagen, die Frage des Referendums so zu formulieren, daß sie der Verfassung der Russischen Föderation entspricht. Ich bin ganz sicher, daß wir die absolute Mehrheit der Stimmen bekommen. Ich möchte daran erinnern, daß in Rußland ein Referendum als gültig anerkannt wird, wenn sich mehr als fünfzig Prozent der wahlberechtigten Bürger daran beteiligt haben. Die Frage des Referendums gilt als angenommen, wenn sich mehr als fünfzig Prozent der am Referendum Beteiligten für sie ausgesprochen haben. Frage: Ist es denn vorstellbar, daß JABLoko die Initiative des Referendums fallenläßt beziehungsweise nicht weiter verfolgt? Wenn beispielsweise die von Präsident Putin gebildete Kommission irgendwelche schicksalsträchtigen Entscheidungen trifft?
Frage: Was geschieht, wenn am Paket der "Atomgesetze" doch noch Änderungen vorgenommen werden? Jawlinski: Das Referendum ist natürlich kein Selbstzweck. Wir legen den Schwerpunkt nicht auf das Referendum an sich, sondern auf die nationalen Interessen unseres Landes. Es ist unsere Pflicht, den politischen Fehler des Parlaments und des Präsidenten zu korrigieren. Wir betrachten die Einfuhr ausländischer abgebrannter Spaltstoffe als ein überaus gefährliches Abenteuer, das für künftige Generationen schwere Folgen nach sich ziehen wird. Werden die atomaren Abfallprodukte nach Rußland eingeführt, werden sie auf unbestimmt lange Zeit hier lagern, und sie können die Sicherheit und die Wirtschaftsentwicklung des Landes auf lange Sicht beeinträchtigen. Frage: Was uns auch große Sorge bereitet, sind die vielfältigen Möglichkeiten für Bestechlichkeit und die zweckentfremdete Verwendung der Einnahmen aus den Geschäften mit dem Atommüll. Jawlinski: Dann geht es natürlich auch um die Transporte. Atomare Abfälle heute nach und in Rußland zu transportieren, ist ein absolut verantwortungsloses und gefährliches Vorhaben. Wenn noch Änderungen an den Gesetzen vorgenommen werden, die die genannten Gefahren tatsächlich abwenden würden, sind wir bereit, unsere Haltung zum Referendum zu korrigieren. Frage: Welche Änderungen müßten denn konkret vorgenommen werden? Jawlinski: Es handelt sich vor allem um Änderungen, die die Endlagerung ausländischer atomarer Abfälle in Rußland verbieten und die Kontrolle über die Verwendung der Gelder sichern. Gegenwärtig kann man nämlich abgebranntes Kernmaterial nach den verabschiedeten Gesetzen nicht nur aufgrund internationaler Verträge, sondern auch auf Basis zivilrechtlicher Verträge nach Rußland einführen. Wir haben Informationen darüber, daß im Atomenergieministerium bereits Tausende Anträge verschiedener Firmen und Unternehmen, die unter anderem auch mit kriminellen Geschäften und der Schattenwirtschaft verbunden sind, eingehen, um nukleare Abfälle auf dem Territorium der Russischen Föderation endzulagern. Nach den Gesetzen ist das Atomenergieministerium die einzige Struktur, die diesen Prozeß kontrollieren kann. Dies ist aus unserer Sicht absolut unannehmbar. JABLoko fordert nachdrücklich, daß atomare Abfälle ausschließlich auf Basis internationaler Verträge, die im Parlament ratifiziert werden müssen, nach Rußland eingeführt werden dürfen. Wir haben auch eine ganze Reihe anderer grundsätzlicher Forderungen. Wir sind zum Beispiel davon überzeugt, daß dem Parlament für jeden Vertrag eine Machbarkeitsstudie vorgelegt werden muß, und wir fordern, daß zunächst einmal eine Lösung für die Verarbeitung der einheimischen abgebrannten Kernbrennstäbe gefunden werden muß. Frage: Wie reagieren die Behörden auf Ihre Initiativen? Jawlinski: Ich habe Telegramme an alle Leiter der exekutiven und legislativen Organe der Föderationssubjekte gesandt. Über dreißig Parlamente der Föderationssubjekte unterstützen unsere Haltung und haben sich bereits gegen die "Atomgesetze" ausgesprochen. Frage: Negativ ist nicht nur die Einstellung der Öffentlichkeit, auch die Gutachten einer Reihe von Wissenschaftlern geben zu denken. Jawlinski: Die Wissenschaftler zeigen sich in dieser Frage gespalten: Die einen unterstützen die Einfuhr ausländischer Kernbrennstoffe, während sich die anderen kategorisch dagegen wenden. Das Atomenergieministerium, das das Paket der Einfuhrgesetze durchgedrückt hat, legt natürlich nur positive Gutachten vor. Auch Präsident Putin verweist nur auf diese Dokumente. Putin hat aber die Stellungnahmen vieler anderer russischer Wissenschaftler, Experten und Mitarbeiter der Atombranche nicht eingeholt. Die Duma erhielt die Stellungnahmen von mehr als zehn Forschungsinstituten, die die Sicherheit dieses Vorhabens des Atomenergieministeriums im Prinzip anzweifeln. Es gibt außerdem eine Erklärung von fünfzehn Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften, die im Detail die Gefährlichkeit dieses Vorhabens offenlegt. Frage: Sie stützen sich also auf die Einschätzungen dieses Teils der Wissenschaftler? Jawlinski: Für mich ist es schwierig, die fachlichen Fragen einzuschätzen. Ich glaube jedoch, daß die Umweltschützer Recht haben. In politischer Hinsicht ist dieses Projekt absolut unvertretbar: Die politischen Risiken, die mit der Einfuhr von atomaren Abfällen zusammenhängen, sind in unserem Land sehr hoch. Die Durcharbeitung der Gesetze, die das Atomenergieministerium auf der Forschungs- und Expertenebene durchgeführt hat, entspricht in keiner Weise der Höhe dieser Risiken. Für mich ist wichtig, daß die russischen Bürger in ihrer überwiegenden Mehrheit die Pläne des Atomenergieministeriums bezüglich der Einfuhr ablehnen. Dies bedeutet in der Tat die Verwandlung Rußlands in einen internationalen Atommüllplatz. Wenn hundert Millionen Bürger Rußlands gegen die Einfuhr ausländischer atomarer Abfälle protestieren und 500 Beamte in Moskau diesen Protest nicht zur Kenntnis nehmen beziehungsweise unterdrücken, dann stelle ich mich auf die Seite der Bürger. Wir streben das Referendum oder aber die genannten Änderungen an den jüngsten Gesetzen an. Die unheilvollen Folgen dieser Gesetze müssen wir verhindern.
Die Republik Kasachstan feiert in diesem Jahr wie die anderen postsowjetischen Republiken den zehnten Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Anlaß für unsere kasachstanischen Autorinnen und Autoren, die Entwicklung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu betrachten.
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