Gesellschaft

aus WOSTOK SPEZIAL: Kasachstan - Staat im Zentrum Eurasiens
 
Aus der Tiefe der Jahrtausende in die Gegenwart [ Abstract ]
Das Phänomen des Nomadentums [ Volltext ]
Nationale Minderheiten in Kasachstan - Bleiben oder Gehen? [ Abstract ]

Aus der Tiefe der Jahrtausende in die Gegenwart
von
Nikolai Larin, Experte am Zentrum für Außenpolitik und Analyse, Almaty


Das Territorium Kasachstans ist seit Jahrtausenden besiedelt. Es sind zunächst nomadisierende, halbseßhafte und Ackerbau betreibende Stämme. Viele Elemente der kasachischen Kultur und des Alltags gehen auf die Saken zurück, die im 3. bis 6. Jahrhundert vor unserer Zeit ihren Staat in Semiretschje errichten. Mitte des 1. Jahrtausends kommen turkvölkische Stämme aus dem Altai in die Region. Sie gelten als Ursprung vieler Völker in Zentralasien. Das Kasacher Khanat erlebt im 14. und 15. Jahrhundert eine Blüte. Das 19. Jahrhundert bringt den Anschluß an das Russische Reich. Im 20. Jahrhundert wird die Sowjetmacht errichtet. Das unabhängige Kasachstan ist Heimat einer Vielzahl von autochthonen und zugewanderten Völkern.
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Das Phänomen des Nomadentums

von
Tolganai Umbetalijewa,Wissenschaftlerin im Kasachstanischen Institut für Strategische Forschungen beim Präsidenten der Republik Kasachstan, Almaty


Traditionell gingen die Kasachen über Jahrhunderte hinweg der nomadisierenden Viehwirtschaft nach. Diese war nicht nur eine spezifische Wirtschaftsform, sondern sie setzte auch den Rahmen für die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen. Entsprechend den klimatischen und natürlichen Bedingungen zogen die Nomaden mit ihren Herden auf genau geregelten Wegen und innerhalb von genau abgesteckten Weidegebieten. Eines der Prinzipien der Nomadengesellschaft war, daß es zwischen den zur Verfügung stehenden Ressourcen - vornehmlich Futter und Wasser - und der Größe einer Herde sowie der Länge des Aufenthaltes am Weideplatz eine Übereinstimmung geben mußte, das heißt, das Ökosystem durfte nicht in Ungleichgewicht gebracht werden.

Das Nomadentum der Kasachen wurde in einer Reihe Abhandlungen erforscht. Bereits in der vorrevolutionären Zeit gab es Werke, in denen Fragen der Geschichte der Nomadengesellschaft beleuchtet wurden. Aber Diskussionen über die Geschichte der Nomaden und ihrer besonderen Wirtschaftsführung werden auch heute noch geführt. Die Forscher stimmen darin überein, daß das Wesen des Nomadentums in der besonderen Organisation der materiellen Produktion besteht. Dies bedeutet vornehmlich die rationelle Nutzung der Naturressourcen durch stetige Verbesserung der Wirtschaftstätigkeit. Damit wurde nicht nur die Vermehrung der Viehherden, sondern auch die normale Funktionsfähigkeit des Ökosystems gesichert.

Wissenschaftler vermuten, daß sich im ersten Jahrtausend vor unserer Zeit und möglicherweise im Prozeß großer Völkerwanderungen die Herausbildung des Nomadentums als eines besonderen Typs der wirtschaftskulturellen Tätigkeit vollzog. War das Nomadentum zunächst noch von geringerer Beweglichkeit geprägt, ließ sich später eine größere Häufigkeit von Ortswechseln beobachten. Diese Evolution endete Mitte des ersten Jahrtausends unserer Zeit.

Die Nomadenwirtschaft gestaltete sich unter den natürlichen Bedingungen eines stark ausgeprägten Kontinentalklimas mit geringen Niederschlägen (bis 200 Millimeter im Jahr) und spärlichen Wasservorräten heraus. Die Bevölkerungsdichte der Nomadenvölker war niedrig und lag zwischen 0,5 bis zwei Personen pro Quadratkilometer. Die Lebensweise erklärt sich aus einem ökologischen Prinzip des Nomadentums, das eine genaue Übereinstimmung der Zahl der Tiere eines Nomaden mit den natürlichen Wasser- und Futterressourcen forderte. Um die Tiere das ganze Jahr hindurch mit Weidefutter versorgen zu können, entwickelte sich das Prinzip der geordneten Wanderung. Die Nomaden zogen mit ihren Herden zu den Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winterweiden. Somit stellte die Nomadenwirtschaft - Treiben der Herde, Weiden der Herde - eine einzigartige Form der Wirtschaftstätigkeit dar, die die natürlichen Ressourcen nicht ausbeutete, sondern in Übereinstimmung mit diesen existierte. Insbesondere sei darauf verwiesen, daß die Wasser- und Futtervorräte mit geringsten Belastungen für die Umwelt genutzt wurden.

Die Viehhaltung der Nomaden war zwar durch eine gewisse Stagnation gekennzeichnet, stellte aber in der vorindustriellen Zeit eine sehr produktive Art der Wirtschaftsführung dar, denn über die Jahrhunderte waren umfangreiche Erfahrungen gesammelt, die Struktur der Herden, die Rasseeigenschaften der Tiere und die Weidenutzung kontinuierlich verbessert worden.

Wirtschaftliche Grundlage der Nomadengesellschaft ist das Eigentum an Tieren. Die Eigentümer der Schafe und Pferde waren aber zugleich praktisch auch die Eigentümer der Weiden.

In den Steppen, Halbwüsten und Wüsten auf dem Gebiet Kasachstans setzte sich die Viehhaltung der Nomaden und Halbnomaden als vorherrschende Wirtschaftsbranche im ersten Jahrtausend unserer Zeit durch. Sie erlebte ihre Blütezeit im 15. bis 17. Jahrhundert, also zu der Zeit, als sich die kasachischen Khanate bildeten und festigten. Die Expansion der Mongolen und die damit einhergehenden Kriege hatten zuvor die kasachischen Steppen entvölkert - allein die kasachischen Stämme blieben zurück und wurden Herren der riesigen Weideflächen.

Zusammenfassend kann man sagen, daß die Entwicklung des Nomadentums in Kasachstan bedingt wurde durch die Lage des Gebiets an der Nahtstelle unterschiedlicher geographischer Zonen, die durch sehr vielfältige Natur- und Klimaverhältnisse, ausgeprägte Trockenheit, Festlandsklima, wenig ergiebige Böden und spärliche Wasserressourcen charakterisiert sind.

Der kasachstanische Wissenschaftler Professor Manassow verweist vor allem auf das Festlandsklima, das seiner Auffassung nach die saisonale Organisation des Weidewechsels wesentlich beeinflußte. In den Weiten der Steppe zogen die Nomaden etwa entlang den Meridianen, in den Vorgebirgen und Gebirgen den Wasserquellen folgend im Frühjahr und Sommer die Berge hinauf und im Herbst in die Steppen zurück.

Wahl und Nutzung der Weiden waren natürlich an die jeweilige Jahreszeit gebunden: Wann war die Produktivität der Pflanzendecke am höchsten, wie waren der Bestand und die Qualität der Quellen, wie hoch die Niederschlagsmenge?

Die natürlichen und klimatischen Bedingungen beeinflußten auch den geschlossenen Wanderkreislauf der Nomaden und ihrer Herden. Die nomadisierende Viehwirtschaft erlaubte keine ungeregelte Wei-denutzung. Aus diesem Grunde wanderten die Nomaden auf strikt festgelegten Strecken innerhalb von streng reglementierten Weideflächen.

Die Kasachen kannten entsprechend den Jahreszeiten vier Weidearten - Frühjahrsweide (Kokteu), Sommerweide (Dschailau), Herbstweide (Kuseu) und Winterweide (Kystau). Besondere Anforderungen mußten Winter- und Sommerweiden erfüllen. Die Winterlager wurden vornehmlich in der Nähe von Flüssen und Binnenseen an geschützten Orten eingerichtet, auch achtete man auf die Dichte und Tiefe der Schneedecke. Ganz andere Merkmale mußte dagegen die Sommerweide aufweisen. Die Nomaden wählten vorzugsweise flache Ebenen beziehungsweise das Tiefland in der offenen Steppe mit seinem reichen Gras- und Halmbestand. Im Vorgebirge und in den Bergen lagen die Sommerweiden in vertikaler Richtung von unten nach oben, wobei die Wasserquellen das wichtigste Kriterium für die Wahl des Weideplatzes waren. Bei den Frühjahrs- und Herbstweiden handelte es sich überwiegend um Gebiete mit vielfältigem Grasbestand und großen Reproduktionsfähigkeiten.

Natürlich wurde die Wahl der Weiden auch durch Art und Größe der Herde bestimmt, da die verschiedenen Tierarten unterschiedliche Pflanzen fressen und unterschiedliche Mengen an Wasser verbrauchen.

Hingewiesen sei noch darauf, daß der Aufenthalt auf einer Weide unterschiedlich lang sein konnte, wobei dies stets von den konkreten Klimaverhältnissen und den zur Verfügung stehenden Naturvorräten abhängig war. Einen zeitlich genau festgelegten Aufenthalt auf den Weiden gab es nicht.

Das materielle Produktionssystem bestimmte auch die Formen der sozialen Organisation der kasachischen Nomaden. Dieser Organisation lag ein System des Zusammenwirkens unterschiedlicher Struktureinheiten zugrunde, die auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie miteinander verbunden waren und auf dem Prinzip der Blutsverwandtschaft aufbauten. Dieses System war in sich geschlossen und regelte die Beziehungen zwischen den Individuen, die Familien- und Ehebeziehungen sowie die sozialen und Alltagsbeziehungen zwischen einzelnen Gruppen. Dies bedeutete aber auch, daß dieses System maßgeblich die Wechselbeziehungen in Produktion, Tausch, Verteilung und bis hin zur militärpolitischen Organisation beeinflußte.

Als wichtigste Wirtschaftszelle der Nomadengesellschaft galt die Gemeinschaft, die naturalwirtschaftlich geprägt war und deren Größe und Zusammensetzung von den natürlichen Bedingungen abhängig waren.

Die Größe einer Gemeinschaft wurde in erster Linie von den zur Verfügung stehenden Futterressourcen bestimmt und stand also in direktem Zusammenhang zu Natur- und Klimaverhältnissen. Darüber hinaus war sie aber auch von der Vermögenslage der Gemeinschaftsmitglieder abhängig. Eine Gemeinschaft konnte aus einer bis zu fünfzehn, manchmal auch mehr Viehwirtschaften bestehen. Gemeinschaften waren also nie statische Gebilde.

Ein wichtiges Merkmal der Gemeinschaft ist das Gemeinschaftseigentum an Boden. In Gemeinschaften lassen sich sehr klar das Privateigentum - an Tieren - und das Gemeinschaftseigentum - an Boden - definieren.

Es gab aber auch einen zweiten Typ - die erweiterte Gemeinschaft. Sie war typisch für die Zeit der höchsten Produktivität der Pflanzendecke (sprich Futterpflanzen) und damit der größten Belastungsfähigkeit der Weiden.

Die erweiterte Gemeinschaft ist durch gemeinsame Produktionstätigkeit zur rationellen Versorgung der Tiere mit Wasser sowie durch gemeinsame Tätigkeiten wie Scheren und Melken der Tiere gekennzeichnet.

Die wichtigste Funktion der erweiterten Gemeinschaft bestand in der Versorgung der Tiere mit Wasser, damit war bei diesem Typ nicht das Eigentum an Weidefläche besonders bedeutsam, sondern das an künstlichen Wasserquellen. Die erweiterte Gemeinschaft ist also durch die Ko-Existenz von Privateigentum, Gemeinschaftseigentum an künstlichen Wasserquellen und indirektem Gemeinschaftseigentum an Weideflächen in der Nähe der jeweiligen Wasserquelle geprägt.

Die erweiterte Gemeinschaft war nicht so streng begrenzt wie die einfache Gemeinschaft. Denn während die Größe der letzteren vornehmlich dadurch bedingt war, wieviel Futter die Weiden hergaben, konnte die erweiterte Gemeinschaft mitunter mehrere hundert Viehwirtschaften umfassen. In der Regel jedoch bestand sie angesichts der verfügbaren Wasservorräte aus zwei bis drei, manchmal mehr Gemeinschaften.

Neben den Gemeinschaften gab es in der Nomadengesellschaft vereinigte oder assoziative Strukturen. Diese territorialen Gemeinschaften übten vor allem Regulierungsfunktionen aus und waren Eigentümer der Bodenflächen, auf denen ihre Mitglieder siedelten. Im Unterschied zu den anderen Gemeinschaftstypen eignete sich diese soziale Struktur indirekt alle Flächen an - unabhängig von deren Produktivität. Dies erklärt sich vornehmlich aus ihrer Funktion, die Bodennutzung zu regeln.

Den Nomaden war ein hierarchisches Wertesystem wesenseigen, das von den unteren Produktionsstrukturen - nämlich den Gemeinschaften, die durch wirtschaftliche Interessen vereint sind - bis zu den assoziativen Gemeinschaften, die die territorialen Beziehungen sichern und regeln, reicht. An der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie fanden sich die Zusammenschlüsse, denen gemeinsame soziale, politische und militärische Beziehungen zugrunde lagen.

Die weiter unten in der Hierarchie stehenden Strukturen - die vornehmlich auf den Prinzipien der Arbeitskooperation aufbauten - waren durch höhere Stabilität und Festigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen geprägt. Sie stellten soziale Organismen dar, die sich vollständig selbst reproduzierten. Je hierarchisch höher die Strukturen angesiedelt waren, desto mehr gewannen nichtwirtschaftliche Faktoren an Bedeutung und desto schwächer wurden die sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen. Infolgedessen waren die höher angesiedelten Strukturen weniger lebensfähig und wiesen einen amorphen und unvollendeten Charakter auf. Andererseits war die Struktur der Nomadengesellschaft in eine genealogische Form gehüllt, die auf der unteren Ebene durchaus real und auf der höchsten Ebene idealistisch und mythenhaft war. Im Ergebnis waren die Grenzen zwischen den verschiedenen Ebenen verwaschen und wies die gesamte Gesellschaftsstruktur eine gewisse Vieldeutigkeit auf.

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die soziale Differenzierung in der Nomadengesellschaft der Kasachen ihren Höhepunkt erreicht. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung arbeitete für reiche Tierbesitzer, was bedeutete, sie hütete Schafe, Pferde, Kühe und Kamele im Tausch gegen Naturalien.

Die nomadisierende Viehwirtschaft als die dominierende Wirtschaftsform blieb also auch in dieser Zeit erhalten. Im traditionellen Wertesystem der Nomadengesellschaft galt die Viehhaltung als eine würdige Beschäftigung, und die Tiere stellten den materialisierten Reichtum dar. Später baute das faktische Eigentum an Boden auf der Nutzung der Wasser- und Futterressourcen auf, wobei die Inbesitznahme auf der Qualität und der Art des Viehbestandes beruhte, der es den reichen Nomaden gestattete, sich den Boden entsprechend der natürlichen Fruchtbarkeit faktisch anzueignen.

Kurz gesagt: Die Genesis des Nomadentums in Kasachstan war vor allem durch die Natur- und Klimaverhältnisse sowie die Notwendigkeit bedingt, eine normale Reproduktion der Herde zu organisieren und die für das Leben benötigten Produkte zu erzeugen. Die Nomadenwirtschaft war von der Umwelt abhängig, die ihrerseits die Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Prozesse begrenzte.
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Nationale Minderheiten in Kasachstan - Bleiben oder Gehen?

von
Beate Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Zentralasienwissenschaften der Humboldt-Universität, Berlin


Die Kasachen stellen heute weit über fünfzig Prozent der Bevölkerung
 
Im multinationalen Kasachstan gab es in den letzten zehn Jahren keine gewalttätigen zwischenethnischen Konflikte. Nach den großen Auswanderungswellen bis Mitte der 90er Jahre hat sich die Emigration heute stabilisiert. Der kasachstanischen Führung ist die Wichtigkeit der Nationalitätenfrage bewußt. Doch zeichnet sich eine schleichende Kasachisierung ab, die Angehörige nichtkasachischer Nationalitäten beim Hochschulzugang und der Ämterbesetzung benachteiligt. Viel kommt darauf an, daß sich alle in Kasachstan lebenden Völker und Völkerschaften in der nationalen und staatlichen Identität wiederfinden können.
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