Ein gutes Deutschland in einem großen Europa
»Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land.« Brechts 1950 verfaßte Kinderhymne hätte es eigentlich verdient, das brave Deutschlandlied mit seiner oft als Offensivgesang empfundenen ersten Strophe abzulösen. Diejenigen, die sich mit Einfallsreichtum, Phantasie und Zivilcourage nach dem Ende des 40jährigen Kalten Krieges für die Schaffung eines friedlichen, ungeteilten großen Europa engagieren, haben mit der Aufforderung und der Botschaft der Brechtschen Verse kaum Probleme. Schließlich bemühten sich schon unmittelbar nach dem Krieg überzeugte deutsche Europäer darum, daß ihr Land, das während der Zeit des Nationalsozialismus der Welt unermeßliches Leid zugefügt hatte, wieder zu einem "guten Land" werde, das als Brückenregion eine Schlüsselrolle im Prozeß der Annäherung von West und Ost spielen sollte. Nun - es ist anders gekommen. Der Kalte Krieg teilte den Kontinent. Die Blöcke duldeten keine Brücken und machten es hüben wie drüben den Partisanen von Humanität und weltbürgerlichen Toleranzideen schwer, außerhalb begrenzter Nischen zu Wort zu kommen. Heute, nachdem die Demokratiebewegungen in den ostmitteleuropäischen Ländern und der DDR, sowie der Reformprozeß in der ehemaligen Sowjetunion eine Aufhebung der deutschen Teilung möglich machte, ist das neue Deutschland mit seiner doppelten Geschichtserfahrung eigentlich der privilegierte Ort, um den europäischen Einigungsprozeß unter Einschluß der osteuropäischen Länder, der europäischen GUS-Staaten und des eurasischen Rußland konzeptiv in einer Weise mitzubestimmen, die nicht westlich hegemonial verfährt, sondern unter Einbeziehung und Ausnutzung aller auf die Festigung demokratischer Strukturen und die Sicherung sozialer Rechte orientierten Kräfte und geistigen Potentiale in West und Ost. Daß dies bisher nicht der Fall war, hängt mit dem Charakter des deutschen Einigungsprozesses zusammen. Der Parole des Aufbruchs im Osten "Wir sind das Volk" scholl das arrogante Echo "Und wir haben das Sagen" entgegen. Der Einigungsvertrag, den - nach einem Diktum Jürgen Habermas' - "Herr Schäuble in der Gestalt des Herrn Krause mit sich selbst abgeschlossen hat", kann denn auch nicht die Geschäftsgrundlage bleiben, auf der sich die Neugestaltung des West-Ost-Verhältnisses im nationalen und europäischen Rahmen gründet. Wenn sich Deutsche für den gesamteuropäischen Einigungsprozeß engagieren, sollten sie zunächst einmal die West-Ost-Annäherung im eigenen Land ernst nehmen: In der Form, wie sie von oben angeordnet und vollzogen wurde, ist sie gründlich mißraten. Das aber heißt noch nicht, daß sie von unten nicht gelingen kann. Dem Bundesverband der Deutschen West-Ost-Gesellschaften (BDWO), der im September vergangenen Jahres in Berlin als gemeinnütziger Verein registriert wurde, gehören inzwischen sechzig Vereine aus fünfzig Städten in Ost und West an. Der Verband versucht, Gewicht und Leistung der im West-Ost-Dialog engagierten nichtstaatlichen Organisationen zu bündeln, um so zur Gestaltung einer friedlichen Zukunft im ungeteilten Europa beizutragen. Die praktische Zusammenarbeit und das ständige Gespräch haben die Mitglieder der West-Ost-Gesellschaften in den alten und neuen Bundesländern menschlich näher gebracht. Gemeinsame Aktionen und Projekte erweitern unsere Sicht, verfeinern die Methoden unserer Arbeit, erleichtern den Zugang zu unseren Partnern, festigen unser Selbstverständnis und verändern unser politisches und alltägliches Umfeld. Wenn unsere Freunde in Wittenberg eine internationale Malwerkstatt Europäische Märchen" für Kinder und Jugendliche aus Belarus, England, Norwegen und Deutschland einrichten, geben sie damit ein Beispiel für europäisches Zusammenwirken und werben zugleich für ihre Region und das gesamteuropäische Gedankengut, das früher von der Lutherstadt ausging. Sie verändern eine Stadt im Osten Deutschlands. Sie lassen ihren guten Ruf wiedererstehen, der unter der Kleingeisterei einer Partei gelitten hat, etwa indem diese noch Ende der 80er Jahre einen Vortrag "Martin Luther. Prediger, Poet und Publizist" verbot, den der Berliner Akademie-Präsident und Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens halten sollte. Wenn unsere Freunde in Münster dieses Jahres im Rahmen der 350-Jahrfeier zum Westfälischen Frieden ein Symposium über "Rußland und Europa" planen, dann stellen sie die Selbstverständlichkeit westlich geprägter Europavorstellungen zur Diskussion, indem sie sie russischen Sichtweisen und dem Kommentar west- und mittelosteuropäischer Dialogpartner aussetzen. Indem sie die im Westen gepriesenen Wirkungen der NATO-Erweiterung, die Kooperation und Stabilität in Europa kritisch in Frage stellen, geben sie ein Beispiel für eine demokratische Streitkultur, die auch im Westen längst nicht mehr selbstverständlich ist. Mit unseren Aktivitäten wollen wir den europäischen Einigungsprozeß von unten fördern. Wir fordern, daß er unter Einschluß Rußlands und der europäischen GUS-Staaten stattfindet. Das Eintreten für ein großes Europa schafft uns in den Partnerregionen und Städten viele Freunde. Sie sind wie wir der Meinung, daß man die Geschicke des künftigen Europa keiner Heiligen Allianz aus Neoliberalen und Neureichen überlassen darf.
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