Politik

Kein Sieger - Die Wahl in der Ukraine (Abstract)
Kaukasus - Realität, Realismus, Lösungen. Ein Rundtischgespräch (Volltext)
Auf der Welle der Traditionen in die Moderne (Abstract)
Die russische Nationalitätenpolitik im Kaukasus: Konzeptuelle Vision (Abstract)
Belarussische Mafia bis in die Präsidialverwaltung? (Abstract)
"Historischer Montag" - nur ein Beleg für die Unwägbarkeit der russischen Politik? (Abstract)


Kein Sieger - Die Wahl in der Ukraine

von
Sergej Makejew, Prof. Dr. rer. soc., Politologe und Redakteur für Soziologie und Politik der Zeitschrift Polititschna Dumka" (Politischer Gedanke")


In der Ukraine wurde das Parlament am 29. März erstmals nach einem gemischten Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht gewählt. Acht Parteien überwanden die Vier-Prozent-Hürde. Bei den Abgeordneten, die sich in den Direktwahlkreisen durchsetzten, handelt es sich fast mehrheitlich um Kandidaten, die sich den Wählern als Unabhängige präsentierten.
Bei der Wahl siegten zwar die linken Parteien, doch verfügen sie in der Rada über keine Mehrheit. Angesichts der andauernden wirtschaftlichen und sozialen Krise in der Ukraine erscheint es Sergej Makejew sogar fast wie eine Niederlage der Linken, daß sie nicht mehr Stimmen errungen hat. Für die nächste Zeit erwartet er, daß die Konfrontation zwischen Legislative und Exekutive weitergeht und das Parlament aufgrund der nicht eindeutigen Mehrheitsverhältnisse auch weiterhin mehr oder weniger einflußlos auf die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik bleiben wird, da sich die Exekutive mit dem Präsidenten an der Spitze in der stärkeren Position befindet.


Kaukasus - Realität, Realismus, Lösungen
Ein Rundtischgespräch


Das Gespräch führten Britta Wollenweber und Peter Franke, Redakteure Wostok


Am 15. April trafen sich die Botschafter der transkaukasischen Republiken Armenien, Aserbaidschan und Georgien, Dr. Ashot Voskanian, Hüssein Aga Ssadig und Dr. Konstantin Gabaschwili, erstmals zu einem Rundtischgespräch mit der Zeitschrift Wostok, um über den Konflikt um Nagorny Karabach, ihre Beziehungen, mögliche Entwicklungen, aber auch die Perspektiven der Region zu diskutieren.


Dr Ashot Voskanian

Hüssein Aga Ssadig

Dr. Konstantin Gabaschwili

Wostok: In den letzten Monaten gab es einige dramatische Entwicklungen im Kaukasus, sei es das Attentat auf Präsident Schewardnadse und die Geiselnahme in Georgien, sei es der für viele überraschende Rücktritt des armenischen Präsidenten Ter-Petrossjan. Mit dem neu gewählten Präsidenten Kotscharjan verbinden viele eine mögliche Zuspitzung der Situation um Nagorny Karabach. Was erwarten Sie von der Politik Ihres Präsidenten, wie schätzen Sie es ein, wie sich die Beziehungen verändern oder auch neu gestalten können?

Voskanian: Es ist nicht einfach, die Frage zu diskutieren, weil die heutige Stufe der Verhandlungen an sich sehr kompliziert ist. Es geht nicht nur um eine Person. Ich habe mich nach dem Rücktritt von Präsident Ter-Petrossjan mit Herrn Kotscharjan in Jerewan getroffen. Er betonte, daß es keine starken Veränderungen geben werde. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, geht es um eine ein wenig härtere Position. Was bedeutet dies aber konkret? Wir sind wahrscheinlich sehr viel näher an der Realität, wenn wir verstehen, daß es in diesem Konflikt drei Parteien gibt: Aserbaidschan, Armenien und Nagorny Karabach. Selbst wenn es scheinen könnte, daß Armenien und Aserbaidschan zusammen in eine Richtung gehen und gemeinsam nach Kompromissen suchen, heißt dies noch nicht, daß wir der Lösung des Problems tatsächlich näher kommen. Die dritte Partei, Nagorny Karabach, hat eine andere und sehr starke Meinung. Als Armenien vor einigen Jahren erklärte, daß Nagorny Karabach in dem Konflikt eine selbständige Partei ist, glaubten viele, dies sei ein Spiel, womit wir Nagorny Karabach mehr Raum verschaffen wollten.

Mittlerweile hatten wir die Möglichkeit zu sehen, daß die Position Nagorny Karabachs eine selbständige ist und daß es seine eigene Meinung vertritt, die auch in Armenien viele einflußreiche Politiker und Parteien teilen. Wenn wir zu einem wirklichen Konsens kommen wollen, müssen wir demnach also die drei Parteien zusammenbringen. Solange sich die Position Karabachs sehr von der der beiden anderen Parteien unterscheidet, sind wir der Lösung nicht sehr nahe.

Ich glaube, daß Präsident Kotscharjan versuchen wird, die Probleme langfristig und pragmatisch zu lösen. Während des Wahlkampfes gab es in Armenien heftige Diskussionen zwischen Kotscharjan und dem Kandidaten der Kommunisten Demirtschjan. Die politischen Gegner Kotscharjans behaupteten, daß er die sogenannte Kriegsposition vertritt. Er selbst hat jedoch mehrmals gesagt, daß er weiß, was Krieg bedeutet, und daß er keinen Krieg, sondern eine Lösung mit friedlichen Mitteln im Rahmen der OSZE erreichen will.

Wostok: Sie sagten, Nagorny Karabach ist die dritte Partei im Konflikt. Die Aserbaidschaner, die in Karabach lebten, sind geflüchtet oder vertrieben. Haben nicht auch sie das Recht, am Entscheidungsprozeß beteiligt zu werden?

Voskanian: Auch viele Armenier sind aus den nördlichen Gebieten Karabachs, die in administrativem Sinne keinen Autonomiestatus hatten, vertrieben worden. Heute leben in Karabach nur Armenier. In Armenien leben die armenischen Flüchtlinge aus Aserbaidschan, in Aserbaidschan die aserbaidschanischen Flüchtlinge aus Karabach. Die Flüchtlingsfrage ist Teil des Gesamtproblems. Wenn wir aber über eine dritte Partei sprechen, sprechen wir von den Kräften, die heute tatsächlich die Macht in Karabach innehaben. Das ist die Realität. Es sind demokratisch gewählte Vertreter. In den Dokumenten der OSZE ist festgehalten, daß die demokratisch gewählten Vertreter von Nagorny Karabach die Gespräche führen müssen. Es heißt nicht, daß Karabach schon eine unabhängige Republik ist, weil es einen Präsidenten hat. Aber es gibt die offiziellen Vertreter, und sie müssen natürlich am Entscheidungsprozeß teilnehmen.

Ssadig: Wenn wir von demokratisch gewählten Vertretern sprechen, dann ist meine Vorstellung von Demokratie, daß sie in demokratischen Wahlen und von der ganzen Bevölkerung gewählt wurden. Am Anfang des Konfliktes lebten in Nagorny Karabach 192000 Menschen, von denen etwa 105000 Armenier, 52000 Aserbaidschaner und 35000 Angehörige anderer Nationalitäten waren. Wenn Sie also von demokratisch gewählten Vertretern reden, sollten diese doch von der ganzen ehemals ansässigen Bevölkerung gewählt sein. Wie sieht es aber in diesem Falle aus?

Voskanian: Ich bin mit diesen Zahlen nicht einverstanden. Der reale Bevölkerungsanteil von Armeniern und Aserbaidschanern betrug damals 76 zu 23 Prozent. Aber ich will gar nicht über Zahlen streiten. Sie haben recht, daß, wenn man vom Ideal der Demokratie redet, die demokratischen Normen bis zum Ende bewahrt und die Wahlen danach durchgeführt werden müssen. Aber das Problem um Nagorny Karabach wurzelt in einer sehr konkreten demokratischen Entscheidung. Karabach hatte eine demokratische Entscheidung getroffen und Aserbaidschan und Armenien gebeten, diese Entscheidung zu akzeptieren und Karabach mit Armenien zu vereinen. Diese erste demokratische Entscheidung fiel am 20. Februar 1988. Am 28. Februar 1988 gab es das Pogrom in Sumgait. Und nach Sumgait haben die Armenier erstmals verstanden, daß das sowjetische Imperium nicht weiter als Schutzmacht dient.

Für uns Armenier war dies sehr schwierig, da wir immer das Gefühl der Gefährdung unserer physischen Sicherheit hatten. Wir waren immer überzeugt gewesen, daß die Sowjetunion mindestens unsere physische Sicherheit garantieren könnte. Aber nach dem 28. Februar wußten wir, daß wir nicht in Sicherheit sind und uns selbst verteidigen müssen. Nach Sumgait können wir nicht mehr von einer reinen, abstrakten Demokratie sprechen, weil der Anfang schrecklich war. Und ich kann mich an diesen Anfang erinnern.

Ssadig Wir können also nicht von demokratisch gewählten Vertretern sprechen.

Voskanian: Doch. Diese Vertreter sind demokratisch gewählt, und Karabach hat sein Recht auf Selbstbestimmung durch ein Referendum proklamiert.

Gabaschwili: Das ist Realität.

Wostok: Kann sich Aserbaidschan denn mit dieser Realität anfreunden? Was erwartet Ihre Republik von den Veränderungen, vom neuen armenischen Präsidenten auch im Hinblick auf Lösungen für Nagorny Karabach?

Ssadig: Ich freue mich, daß hier sehr oft die Wörter Realität und Realismus gefallen sind. Heute sehen die Realitäten in unserer Region wie folgt aus: Der 1988 zwischen Armenien und Aserbaidschan begonnene Konflikt ist 1990 in Kriegshandlungen übergegangen. Heute sind mehr als zwanzig Prozent aserbaidschanischen Territoriums von armenischen Truppen okkupiert - Nagorny Karabach und sechs aserbaidschanische Bezirke. Das ist die traurige Realität. Aus armenischen Gebieten wurden mehr als 185000, aus den sechs aserbaidschanischen Bezirken und Nagorny Karabach mehr als eine Million Aserbaidschaner und Angehörige anderer Nationalitäten vertrieben. Ich möchte mich nicht darin verlieren, was mit dieser Vertreibung einherging.

Lassen Sie mich einige Zahlen anführen: 18000 Aserbaidschaner wurden ermordet, mehr als 50000 wurden verwundet oder sind Invalide, mehrere Zehntausend sind vermißt oder wurden als Geiseln und Kriegsgefangene genommen. Nach Angaben der Staatlichen Kommission für Fragen der Flüchtlinge und Kriegsgefangenen sind mehr als 4600 aserbaidschanische Staatsbürger in armenischer Geiselhaft, darunter 239 Frauen, 62 Kinder und ungefähr 94 Personen über sechzig Jahre. Das ist Realität. Und Realität ist auch, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 1993 vier Resolutionen verabschiedet hat. In allen Resolutionen wurde die armenische Seite aufgefordert, die okkupierten Gebiete bedingungslos zu verlassen und Voraussetzungen für die Rückkehr der Vertriebenen und Flüchtlinge zu schaffen. Diese Resolutionen sind Papier geblieben, weil Armenien, das selbst UN-Mitglied ist, sie weder respektiert noch erfüllt hat.

Ich möchte noch einmal betonen, daß es mich freut, daß in den Ausführungen meines Kollegen von Realität und Realismus die Rede war, und daß die neue Regierung an der friedlichen Lösung des Konflikts interessiert ist. Es gibt keine Alternative zur friedlichen Lösung, das ist die Realität. Und offen gesagt, erwarten wir von unserem Nachbarn ebenfalls keine andere Haltung. Es ist auch Realität, daß sich Armenien infolge seiner Politik politisch isoliert hat. 1996 beim Lissabonner Gipfeltreffen haben 53 von 54 Staaten für die Prinzipien der friedlichen Beilegung des Karabach-Konfliktes gestimmt, nur Armenien nicht. Ist das eine Isolation? Ja. Die Politik der kriegerischen Lösung führt Armenien in eine Sackgasse. Wir glauben, daß jede Regierung in Armenien in absehbarer Zukunft eine friedliche Beilegung suchen muß und wird.

Voskanian: Ich bin ein wenig enttäuscht, weil ich eine dynamische Diskussion über die heutige Lage des Problems erwartet und nicht gedacht habe, daß wir die schwierige Frage noch einmal in propagandistischen Klischees aufrollen. Ich habe nicht die Absicht, einen Zahlenkrieg zu führen. Es ist sehr schwierig zu diskutieren, wenn die Argumente nicht verifizierbar sind. Ich weiß nicht, woher Ihre Zahlen kommen. Die Tatsachen sind ein wenig anders. Am 25. März 1997 erklärte das armenische Außenministerium, daß alle Geiseln freigelassen werden. Es gibt keine Geiseln in Armenien.

Die armenische Bevölkerung von Karabach und Aserbaidschan befanden sich in den letzten Jahren im Kriegszustand, das ist Realität. Krieg ist selbstverständlich immer gefährlich und schlecht. Wenn wir über Entscheidungen sprechen, müssen wir uns vergegenwärtigen, daß wir das Karabach-Problem jetzt im Rahmen der OSZE lösen und daß wir konkrete Gespräche führen. Die Parteien müssen Kompromisse finden, und die müssen alle eingehen, nicht nur eine Seite. Wir alle müssen den politischen Willen haben. Was ist das Problem? Wenn Sie von armenischen Truppen sprechen, dann müssen Sie auch sagen, daß in den UN-Resolutionen nicht steht, daß es Truppen der Republik Armenien sind. Es sind armenische Truppen, aber keine des Staates Armenien. Das ist ein extrem wichtiger Unterschied.

Wir haben das Problem, wie man mit den Waffen umgeht, die in der Hand von Kräften sind, die keinen staatlichen Status haben. Dieses Problem kennen wir auch aus Abchasien. Es ist ein eigenständiger Problembereich. Wenn wir den Konflikt lösen wollen, dann müssen wir uns den Problemen konkret und ehrlich stellen, und ehrliche Antworten geben. Bezogen auf das Lissabonner Treffen möchte ich betonen, daß die Republik Armenien die friedliche Lösung nicht abgelehnt hat. Nein, es gibt ein Problem mit drei umstrittenen Bereichen: die Integrität und die Grenzen Aserbaidschans, das Autonomieniveau für Nagorny Karabach und die Sicherheitsgarantien für die Bevölkerung von Nagorny Karabach.

Das Problem besteht nicht darin, daß wir über diese Fragen nicht diskutieren wollen, sondern im Wie. Der erste Punkt ist eine ganz abstrakte Feststellung. Wenn wir von der Integrität und den Grenzen Aserbaidschans sprechen, können wir nur Ja oder Nein sagen. Wenn wir über das Niveau der Autonomie und die Sicherheitsgarantien sprechen, reicht es nicht, Ja oder Nein zu sagen, sondern wir müssen das konkrete Paket haben.

Ssadig: Armenien hat bereits Nein gesagt, als es nicht zustimmte.

Voskanian: Nagorny Karabach hat das Selbstbestimmungsrecht, und muß, wenn es um den eigenen Status geht, am Entscheidungsprozeß teilnehmen. Wir hatten keine konkreten Vorschläge von aserbaidschanischer Seite vorliegen. Aserbaidschan redet über die Autonomie für Nagorny Karabach, aber niemand weiß, was darunter zu verstehen ist.

Gabaschwili: Der ehemalige Präsident von Armenien war ein angesehener Politiker, er war Dissident und Historiker. Zuletzt schien es, daß er mit dem OSZE-Modell einverstanden war. Präsident Kotscharjan kommt aus Nagorny Karabach. Sie haben von den drei Parteien im Konflikt gesprochen. Denken Sie, daß sich Karabach und Armenien mit der Politik eines Präsidenten Kotscharjan näher kommen? Er hat gesagt, daß er gegen den Krieg ist. Aber bedeutet seine Herkunft wirklich eine Gefährdung oder vielleicht gar eine Verbesserung der Lage, weil er freier ist, eine friedliche Lösung herbeizuführen?

Voskanian: Das ist eine wichtige Frage, denn es betrifft nicht nur die außenpolitische, sondern auch die innenpolitische Situation. Manche fragen sich in Armenien, ob es nun gut oder schlecht ist, wenn ein Karabacher Präsident Armeniens ist. Das Präsidentenamt hat seine eigene Logik, und Kotscharjan wird dieser Logik folgen. Er trifft seine Entscheidungen nicht als Privatperson, sondern als armenischer Staatschef. Auch wenn Kotscharjan aus Karabach kommt, bleibt es dabei, daß drei Seiten in den Konflikt involviert sind.

Gabaschwili: Wie schätzen Sie die Möglichkeiten für die friedliche Lösung ein?

Voskanian: Ich bin mir nicht sicher. Ich kann das konkrete Vorschlagspaket nicht einschätzen. Dabei geht es nicht um Krieg oder Frieden, sondern um die konkrete Situation, und es geht auch nicht darum, daß Armenien Krieg will und Aserbaidschan Frieden.

Gabaschwili: Erarbeitet allein die OSZE-Kommission dieses Paket, oder gibt es auch einen direkten Dialog zwischen Armenien und Aserbaidschan?

Voskanian: Das Paket wurde vom Ersten OSZE-Vorsitzenden vorbereitet, von aserbaidschanischer Seite haben wir keine konkreten Vorschläge bekommen.

Ssadig: In Lissabon ging es nicht um ein Paket, sondern um drei Prinzipien: 1. Respektierung der Souveränität Armeniens und Aserbaidschans, 2. höchster Autonomiestatus für Nagorny Karabach im Rahmen des aserbaidschanischen Staates ...

Voskanian: Aber was bedeutet das denn? Ohne Sicherheitsgarantien und die Definition des Status ist das ein leerer Begriff.

Ssadig: Was höchste Autonomie bedeutet, das müssen die Experten der OSZE-Gruppe erarbeiten, nachdem den Prinzipien zugestimmt wurde. Was bedeutet Autonomie? Wir räumen Karabach die höchstmögliche Autonomie innerhalb des aserbaidschanischen Staates ein. Die sowjetische Autonomie hat sich blamiert. Im sowjetischen Imperium waren nicht nur die Armenier in Nagorny Karabach benachteiligt, sondern unterdrückt wurden auch das aserbaidschanische Volk wie das georgische und das armenische. Aus diesem Grund sprechen wir heute nicht von Autonomie, sondern vom Status, dem höchsten Grad der Selbstverwaltung im Rahmen der aserbaidschanischen Republik. Das dritte Prinzip ist die Gewährleistung der Sicherheit der gesamten Bevölkerung Karabachs. Die Staaten guten Willens haben diese Prinzipien akzeptiert. Wir wären einem Friedensabkommen schon nahe, wenn sie auch von Armenien akzeptiert worden wären.

Voskanian: Die tragische Geschichte von Nagorny Karabach hat gezeigt, daß, was Sie als möglich einschätzen, für Karabach unmöglich ist. Ich kann hier feststellen, daß wir keine gemeinsame Verständigung haben, was dieses Problem betrifft.

Gabaschwili: Nagorny Karabach ist nicht nur ein Problem für Aserbaidschan und Armenien, sondern der Konflikt ist eines der Hauptprobleme des gesamten Kaukasus, ja, für den Friedensprozeß in der ganzen Welt. Es ist von großer Bedeutung, welche Perspektive der neue armenische Präsident für die Entwicklung bietet. Unsere drei Republiken, aber auch unsere Nachbarn und die europäischen Länder haben großes Interesse an dem, was passiert, und wie es weiter geht. Karabach ist eine typische politische Bombe aus der Sowjetzeit.

Aber wo liegen die Unterschiede zum ossetisch-inguschetischen, dem georgisch-südossetischen, dem georgisch-abchasischen oder dem Dnjestr-Konflikt? Nagorny Karabach ist ein Konflikt, der zwei unabhängige Staaten einbezieht. Alle anderen Konflikte sind Konflikte innerhalb eines Staates. Ich sage hier ganz offen: Die Lösung der Karabach-Frage ist für mich als Georgier fast von ebenso großer Bedeutung wie die Lösung der Abchasien-Frage. Die Konflikte sind in unserer Geschichte angelegt worden und wir wissen, wie und warum das so gemacht wurde.

Die friedliche Entwicklung ist politisch und wirtschaftlich jedoch nicht nur für uns wichtig, sondern auch für Europa und die ganze Welt. Aus diesem Grund hat Präsident Schewardnadse die Initiative über den Friedensprozeß im Kaukasus entwickelt. Sowohl der armenische als auch der aserbaidschanische Staatschef haben sie unterzeichnet, aber es waren in beiden Fällen bilaterale Verträge. Natürlich wäre es viel besser gewesen, wenn alle drei Präsidenten gemeinsam diesen Vertrag unterzeichnet hätten.

Voskanian: Sie haben völlig recht, daß es ein Problem für den gesamten Kaukasus ist. Ich habe aber auch eine Frage. In Georgien gibt es sehr viele Flüchtlinge aus Abchasien, nicht wahr? Georgien führt jedoch direkte Gespräche mit den Vertretern Abchasiens? Warum redet Präsident Schewardnadse mit den Abchasen?

Gabaschwili: Wir nutzen alle Möglichkeiten, um diesen Konflikt zu lösen.

Voskanian: Und was meinen Sie, warum will die aserbaidschanische Seite nicht direkt mit Nagorny Karabach reden?

Gabaschwili: Das müssen Sie besser wissen!

Ssadig: Dann fragen Sie doch mich - die aserbaidschanische Seite. Ich antworte Ihnen gern. Karabach war aserbaidschanisches Territorium und wird es auch bleiben. Wir müssen über die Okkupation aserbaidschanischen Territoriums durch Armee-Einheiten der armenischen Seite reden. Sie haben gesagt, daß es unkontrollierte Waffen in Karabach gibt. Nun, wir können die Kapazitäten Nagorny Karabachs sehr wohl einschätzen. Selbst wenn Karabach alle seine Kräfte mobilisiert hätte, hätte es kaum fünf oder zehn Panzer kaufen können. Woher kommen also die Waffen? Es sind armenische Waffen, und dafür gibt es auch Belege.

Gabaschwili: Lieber Kollege, sind es nur armenische Truppen?

Voskanian: Diese Diskussion möchte ich nicht weiter führen. Es sind reine Interpretationen, ich kann nur über Tatsachen reden, die offiziell festgestellt und bewiesen sind. Die OSZE beschäftigt sich schon lange mit diesem Konflikt und ist niemals zu solchen Schlußfolgerungen gekommen. Und ich stelle noch einmal fest, daß es Ihrer Meinung nach einen wichtigen Unterschied zwischen der Situation in Abchasien und Nagorny Karabach gibt. Sie möchten, daß Nagorny Karabach ein unikaler Konflikt ist, und Sie möchten ihn nicht mit Mitteln lösen, mit denen Georgien versucht, seinen Abchasien-Konflikt zu lösen. Wenn Aserbaidschan den Karabach-Konflikt als unikal ansieht, muß es auch unikale Lösungen anbieten.

Gabaschwili: Ich komme noch einmal zur Idee des Kaukasischen Hauses. In unserer Mentalität spielt die Geschichte eine wichtige Rolle. Manchmal, und das ist auch unser Fehler, starren wir zu sehr auf die Geschichte. Zweihundert Jahre waren wir unterdrückt. Und natürlich war das Besinnen auf die eigene Geschichte eine ganz hervorragende Möglichkeit zum Überleben.
Vielleicht haben wir alle den Fehler gemacht, unsere Ideale und unsere Zukunft in unserer Geschichte zu suchen. Es ist eine bedeutende Arbeit, die wir leisten müssen, wenn wir die Mentalität verändern wollen. Wir machen manchmal den Fehler, daß wir denken und reden, als ob wir keine Zukunft hätten und daß wir nicht sehen, welche Zukunft wir haben. Wir haben unser Ziel noch nicht gefunden und nicht genau bestimmt, wohin wir gehen. Was wollen wir? Ich denke, wenn wir uns damit beschäftigen, kommen wir rascher zu Lösungen.

In Georgien gibt es 300000 Armenier und Aserbaidschaner. Sie haben keine Konflikte miteinander. Georgien ist ein tolerantes Land, und das Zusammenleben der Nationalitäten bei uns beweist, daß es zwischen Aserbaidschanern und Armeniern keinen Grundkonflikt gibt.

Ich komme auch aus einem Land, das Krieg geführt hat, einen Bürgerkrieg. Es gibt viele Menschen, die viele Argumente gegen eine abchasische Regierung haben. Ich denke jedoch auch, daß sich mit einer dritten Kraft der Konflikt lösen läßt. Die wichtigste Frage ist, wer die dritte Kraft ist. Ist es ein internationales Modell, das die Interessen der Weltgemeinschaft vertritt, oder sind es andere Kräfte, die im Kaukasus eine besondere, eine negative Situation schaffen. Wenn alle drei Seiten im Konflikt bereit sind - und Herr Voskanian sagt, daß das OSZE-Modell nun das Arbeitsmodell für alle Seiten ist -, dann bedeutet dies, daß es eine Friedenslösung gibt.

Was ist in unserer jüngsten Geschichte mit uns passiert? Es war der totale Zusammenbruch des sowjetischen Modells. Wenn selbst Polen und Ostdeutschland angesichts der Umwälzungen so große Probleme haben, dann kann man sich ungefähr vorstellen, was für unsere drei kleinen Republiken die Umwälzungen bedeuten. Vor dem Hintergrund von kriegerischen Auseinandersetzungen standen und stehen wir vor der Aufgabe, gleichzeitig die Wirtschaft neu aufzubauen, ein neues politisches System zu installieren, unsere Mentalität zu verändern und eine neue Rolle zu finden. Das ist nicht so einfach, das ist nicht nur für uns nicht einfach. Aber das wichtigste, was wir verstehen müssen, ist, daß der Kaukasus ohne Frieden keine Zukunft hat.

Wir wissen nicht, wo der Kaukasus ist. Gehört er zu Asien oder zu Europa? Nehmen wir den Transportkorridor, das Traseca-Projekt. Es ist eine europäische Idee, nicht wir haben sie entwickelt. Aber es ist eine extrem positive Entwicklung, die ermöglicht, daß wir eine neue Funktion für uns finden können. Nehmen wir das Öl. In Armenien gibt es viele hochgebildete Leute, die sehr gut verstehen, daß, wenn Armenien außerhalb des Ölspiels bleibt, dies ausgesprochen schlecht für die Entwicklung des Landes ist.

Ssadig: Ich unterstütze den Gedanken meines georgischen Kollegen, daß wir aus der Geschichte lernen müssen. Ich will eine kleine Episode erzählen. Es gab bei uns in den 30er Jahren einen Schriftsteller, einen Dramaturgen. Er schrieb das Drama Im Jahre 1905". Die Geschichte geht so: Im Konflikt von 1905 liegt ein Aserbaidschaner in einem Schützengraben und im Schützengraben gegenüber liegt ein Armenier. Sie schießen aufeinander. Als der Armenier seinen Gefährten dann etwas zuruft, kommt dem Aserbaidschaner die Stimme sehr bekannt vor. Da fragt er: Du, Armenier, aus welchem Dorf bist du?" Der nennt ein Dorf. In diesem Dorf lebt der Aserbaidschaner selber. Und er sagt: Ich lebe auch in diesem Dorf. Und in welcher Straße wohnst du?" Und der Armenier nennt die Straße. Und es stellt sich heraus, daß sie Nachbarn in einer Straße in einem Dorf in Karabach sind. Und dann klettern beide aus dem Schützengraben, sitzen beieinander, umarmen sich und bringen, was sie haben, zum Essen: Wurst, Huhn Fleisch, Wodka und Wein. Dann plötzlich hört man einen Schuß, und einer von beiden fällt tot um - und der andere sagt: Das waren die Kosaken."

Voskanian: Die Geschichte ist sehr wichtig, aber nicht alles. Und wenn der georgische Kollege sagt, daß wir nicht nur die Geschichte beachten, sondern mehr an die Zukunft denken müssen, dann ist dies ebenfalls wichtig. Es ist eine westliche, europäische Idee. Die kaukasischen Völker erleben sich sehr oft als Geisel ihrer eigenen Geschichte. Wir müssen also nicht nur aus der Geschichte lernen, sondern wir müssen vielmehr lernen, unsere Geschichte zu überwinden, um die nächsten Schritte machen zu können. In diesem Sinne müssen wir auch die jüngste Geschichte des Konfliktes angehen. Wir dürfen die allseits bekannte Entwicklung des Konfliktes nicht immer wieder nur subjektiv interpretieren, sondern müssen uns stärker auf mögliche Lösungen konzentrieren.

Ich möchte betonen, daß die kaukasischen Länder ein intensives Gefühl haben, daß sie zu Europa gehören. Ich war dabei, als wir in Straßburg zum ersten Mal den Antrag gestellt haben, als Vollmitglied im Europarat aufgenommen zu werden. Ich glaube, daß wir als Einheit dieses Ziel erreichen werden. In unserer Region nehmen verschiedene Mächte Einfluß: Rußland, der Iran, die Türkei, Europa, die USA - alle diese Kräfte schaffen einen sehr interessanten Spielplatz, und wir müssen eine Balance zwischen all diesen Kräften schaffen. Es ist ein sehr schwieriger Weg nach Europa, aber unsere drei Länder müssen gemeinsam sehen, wie sie diesen Weg hin zu Europa gehen.

Gabaschwili: Mein lieber Freund, in unserem politischen Leben wird es oft die Situation gegeben haben, daß wir persönlich etwas gegen den Menschen hatten, der uns gegenüber sitzt. Trotzdem denken beide über die Zusammenarbeit nach, über eine Lösung für die Zukunft. Wenn wir nur mit Emotionen über das reden, was passiert ist, ist dies ein destruktiver Faktor. Natürlich sage ich nicht, daß wir die Geschichte vergessen sollen.

Aber wenn wir neue Ideen entwickeln müssen, wäre es gut, wenn wir ohne belastende Ideen im Kopf kämen. Das bezieht sich jetzt natürlich nicht darauf, wie Aserbaidschaner und Armenier in konkreten Fragen miteinander umgehen sollen, sondern auf ganz allgemeine Fragen wie die Flüchtlingsfrage. Die Hauptsache ist doch, daß alle Flüchtlinge nach Hause zurückkehren. Dafür müssen wir Lösungen finden.

Ssadig: Deshalb habe ich auch über das Flüchtlingsproblem so ausführlich gesprochen. Aber eines ist klar: Wo Krisen sind, wo Kriegsgefahr besteht, kann die Entwicklung nicht normal laufen. Der Krieg stört nicht nur Aserbaidschan und Armenien, nicht nur die Entwicklung der transkaukasischen Region, er stört auch die Zusammenarbeit mit der ganzen Welt. Die Vertreter unserer Staaten müssen nicht nur über diesen Konflikt reden, sondern in Richtung Beilegung des Konfliktes handeln.

Gabaschwili: Sie warten also auf den armenischen Präsidenten?

Ssadig: Ja, wir warten natürlich.

Voskanian: Mich interessiert, ob Sie meinen, daß Sie Ihren Teil der Sache schon getan haben, und nun auf uns warten. Oder glauben Sie, daß wir beide noch Probleme haben, die wir gemeinsam lösen müssen?

Ssadig: Wir haben natürlich beide Probleme, aber wir müssen in eine bestimmte Richtung gehen, und diesen Weg zeigen uns die Staatengemeinschaft und die OSZE.

Voskanian: Aber Sie warten auf unsere Verhandlungen?

Ssadig: Wir sind reich an Bodenschätzen, und daraus machen wir keinen Hehl. Wir wollen mit anderen Staaten zusammenarbeiten, wir wollen nicht nur mit unseren Nachbarn zusammenarbeiten. Das können wir nur, wenn die Region tatsächlich in Frieden lebt. Wir kooperieren jetzt mit Georgien auf dem Gebiet der Ölpipelines. Ein solch gutes Zusammenwirken hätten wir uns mit allen Nachbarn gewünscht, auch mit Armenien, denn in der Geschichte arbeiteten wir immer gut zusammen. Aber leider setzen die armenische Politik und die armenische Führung nicht auf die friedliche Zusammenarbeit, sondern immer wieder auf Konflikte.

Voskanian: Ich studierte seinerzeit ein wenig Philosophie. Jedes Ding hat zwei Seiten. Man kann nicht über eine schlechte und eine gute Seite sprechen. Wenn wir zwei Seiten haben und die Fragen nur in dem Kontext stellen, daß es eine schlechte und eine gute Seite gibt, und daß die gute Seite wartet, daß die schlechte Seite die richtigen Schritte tut, dann fürchte ich, daß ich meinen Optimismus verliere, daß wir diesen Konflikt lösen können.

Gabaschwili: Wenn Sie Ihren Optimismus verlieren, ist das sehr schlecht. Natürlich müssen wir Optimisten bleiben. Jedes unserer Länder hat seine inneren Schwierigkeiten, das wiederhole ich hier. Wir müssen das europäische Entwicklungsmodell finden, um unsere innere Bedeutung zu stärken.

Wostok: Sie alle betonen, daß Sie in Richtung Europa blicken. Andererseits sind Ihre Länder Mitglied in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die GUS spielt in unserem Gespräch bislang keine Rolle. Entspricht dies der Realität? Man hört auch aus Moskau, daß alle GUS-Länder außer Rußland kein großes Interesse an der GUS haben, da sich alle Richtung Europa orientieren.

Gabaschwili: Rußland tut dies ja auch.

Wostok: Ja, aber in der GUS hätte Rußland eine Führungsrolle. Hat die GUS also tatsächlich keine Relevanz mehr für Ihre Länder?

Ssadig: Aserbaidschan sieht vor allem die politische und die wirtschaftliche Integration in Europa und die ganze Welt als den richtigen Weg zur Festigung seiner politischen Unabhängigkeit. Aber wir sind seit 1993 auch Mitglied der GUS. Wir sind Mitglied, weil wir zur Sowjetunion gehörten und weil unsere Volkswirtschaften verflochten sind. Wir sind unter der Voraussetzung Mitglied geworden, daß die Mitglieder auf gleichberechtigter Ebene zusammenarbeiten - ähnlich wie in der EU. Wir meinen, daß im Rahmen der GUS die Länder einem solchen Modell folgen sollten. Leider passiert dies bislang nicht.

Voskanian: Die Beziehungen innerhalb der GUS sind bislang weniger konstruktiv als die bilateralen Beziehungen mit einzelnen GUS-Staaten. Die GUS ist noch keine vollkommene, sondern eine sehr amorphe Struktur. Andererseits habe ich den Eindruck, daß die GUS uns niemals gestört hat, weder in den Beziehungen zu anderen Ländern, noch zur EU.

Gabaschwili: Am Anfang hat die ganze Welt, und wir auch, die GUS als die neue Union verstanden. Es gab viele Versuchungen, in dieser Richtung das gleiche System - wenn auch mit anderer Ideologie - aufzubauen wie in der UdSSR. Es gab großen Druck in bezug auf ein einheitliches Zollsystem, aber es ist mißlungen. Die GUS ist eher ein Rat, der manchmal eine interessante, manchmal eine negative Rolle spielt. Schlecht ist, daß man sich nicht genügend bemüht, Probleme gemeinsam zu lösen. Die GUS hat nichts getan, um bei der Lösung der Konflikte in unserer Region zu helfen. Gleichzeitig haben die ehemals in der Sowjetunion vereinigten Länder annähernd die gleichen Probleme. Dies erklärt, warum es die GUS überhaupt gibt.

Unsere drei Länder warten jedoch schon sehr lange auf die Abstimmung ihrer jeweiligen Verträge mit der EU, die ja in jedem Parlament der EU-Mitgliedsländer ratifiziert werden müssen. In einigen sind sie bereits ratifiziert. Auch wenn wir die Integration mit den europäischen Ländern ganz stark wollen, ist die Antwort manchmal nicht besonders positiv. Die Beziehungen mit Deutschland sind gut, können aber noch besser werden. Daran sind wir sehr interessiert. Jedes unserer Länder hat eine Vielzahl bilateraler Beziehungen, mitunter kommen aber die politischen Schritte, um unsere Unabhängigkeit zu unterstützen, mit Verspätung. Das ist so. Unser Ziel ist unsere Unabhängigkeit und unsere Integration in Europa, in der Weltgemeinschaft, unter anderem auch durch Verträge mit der Welthandelsorganisation.

Wenn wir heute über die Rolle der GUS sprechen, die ein wenig Bedeutung in sich trägt, dann ist sie ein Rat, eine Möglichkeit der Zusammenarbeit auch mit Rußland. Aber Rußland will natürlich eine Hauptrolle in der GUS spielen, und wir wollen unsere Rolle wie die kleinen Staaten in der EU spielen. Wir haben nichts gegen normale wirtschaftliche und politische Beziehungen mit Rußland, im Gegenteil. Das bedeutet jedoch nicht, daß ein Staat eine Hauptrolle spielen kann.

Wostok: Rußland formuliert andererseits ja sehr deutlich, daß es starke geopolitische Interessen im Kaukasus hat.

Gabaschwili: Der Kaukasus ist nicht nur für Rußland eine geopolitisch interessante Region, sondern für viele Länder. Rußland und wir haben uns geöffnet, und die alte geopolitische Bedeutung hat sich ein wenig verändert. Der Iran, die Türkei, Zentralasien, Europa, die USA, China - alle haben ihre Interessen. Wir liegen zwischen zwei Meeren - dem Schwarzen Meer, das den direkten Kontakt zu Europa ermöglicht, und dem Kaspischen Meer, das uns mit Zentralasien und China verbindet. Aber was bedeuten diese Interessen, und wie ist es möglich, sie zu realisieren? Ist es ein Interesse, dann ist es gut, wenn es aber der Wunsch nach Einflußnahme ist, dann ist das etwas anderes. Wir wollen unsere Unabhängigkeit erhalten und normale Beziehungen pflegen.

Wostok: Wie schätzen Sie die Politik Rußlands gegenüber dem Kaukasus derzeit ein? Wie gestalten sich die Beziehungen heute überhaupt?

Gabaschwili: In Georgien ist dies, offen gesagt, kompliziert. Die kulturellen Beziehungen gestalten sich ausgezeichnet, die politischen Beziehungen sind im Prinzip gut, aber es gibt viele Kräfte in Rußland, bei denen wir nicht verstehen, was sie überhaupt wollen. Was bedeuten die braun-roten Kräfte, die Revanchisten, was heißt es, wenn man die Sowjetunion wiederherstellen will? In der Duma gab es zuletzt einen Beschluß gegen die Entscheidung Kirijenkos, zehn Militäranlagen an Georgien zurückzugeben. Was bedeutet es, zehn Militäranlagen an Georgien zurückzugeben? Die Anlagen befinden sich auf georgischem Territorium, das heißt, es ist ein durchaus natürlicher Beschluß, sie Georgien zu überlassen, zumal sie außer Betrieb und daher unwichtig sind. Bestimmte politische Kräfte in Rußland haben ihre Leute in der Duma, die dagegen agiert haben, niemand weiß so recht, warum. Natürlich hat Georgien darauf reagiert. Es ist nur ein Beispiel, wie aus dem Nichts Probleme geschaffen werden.

Unsere Geschichte ist ein sehr langes Zusammenleben mit Rußland, in guter und in schlechter Hinsicht. Wenn ein falsches Wort oder ein falscher Artikel in den größeren russischen Zeitungen veröffentlicht wird, kommt natürlich sofort eine Reaktion aus Georgien. Wenn die Politiker unserer Länder verschiedener Meinung sind, nehmen wir das sehr wohl zur Kenntnis. Nehmen wir das Attentat auf Präsident Schewardnadse - da gab es auch mit Rußland positive Zusammenarbeit bei der Aufklärung, wenn auch keine vollständige. Andererseits wüßten wir heute die russische Adresse unseres ehemaligen Sicherheitsministers nicht, wenn sie uns nicht von einem amerikanischen Senator mitgeteilt worden wäre. Oder, was bedeutet es, wenn Außenminister Primakow im russischen Fernsehen einen Witz über das Attentat auf den Präsidenten eines anderen Landes macht?
Russische Unternehmen engagieren sich wirtschaftlich in Georgien, das sind ganz normale geschäftliche Beziehungen. Die Russische Föderation ist unser Nachbar, und sie ist ein großer Markt für jedes unserer Länder. Unsere Kontakte sind alt, es sind viele kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Kontakte. Natürlich haben wir etwas gegen hegemoniale Ansprüche.

Ssadig: Seit wir unsere staatliche Unabhängigkeit erreicht haben, wollen wir Rußland nicht als großen Bruder betrachten, sondern als großen Nachbarn. Wir wollen mit Rußland zivilisierte, gleichberechtigte und für beide Seiten vorteilhafte Beziehungen. Unser Volk hat mehrheitlich eine positive Haltung gegenüber Rußland, da die meiste Zeit unserer gemeinsamen Geschichte mit Rußland positiv war. Wenn wir "Rußland" sagen, denken wir an Puschkin, an Tolstoi, an Dostojewski, an Tschaikowski, an Glinka. Wir denken an ein demokratisches, fortschrittliches Rußland. Aber wir haben von Realismus und Realitäten gesprochen, und die Realitäten in den Beziehungen mit Rußland sind leider ein wenig anders.

Zur Zeit haben wir gute kulturelle Beziehungen, die politischen Beziehungen sind jedoch getrübt. Nicht Aserbaidschan ist daran schuld. Unser großer Nachbar hat einen Vermittler zur Beilegung des Karabach-Konfliktes in der Minsker Gruppe der OSZE. Einerseits bemüht man sich um eine politische Lösung für die Beilegung des Konfliktes, andererseits aber belieferte man in den letzten zwei Jahren die andere Seite des Konfliktes mit Waffen im Wert von einer Milliarde Dollar. Das fördert unsere guten politischen Beziehungen selbstverständlich nicht. Und es wird von der aserbaidschanischen Öffentlichkeit scharf verurteilt.

Voskanian: In Wien habe ich mich sehr intensiv mit den sogenannten Waffenlieferungen beschäftigt. Aber es ist schwierig, die Probleme zu diskutieren, die mit den Waffenlieferungen verbunden sind, weil es keine Beweise gibt.

Ssadig: Aber entschuldigen Sie bitte. Wir haben die Erklärung eines russischen Ministers, wir haben die Berichte in den russischen Massenmedien, und wir haben die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft Rußlands.

Voskanian: Aber wir haben keine offiziellen Dokumente für ihre Behauptung erhalten. Zum Thema Rußland möchte ich noch einen Satz anfügen. Das armenische Volk hat seit Jahrhunderten immer ein Gefühl der physischen Unsicherheit in sich getragen. Ob es nun gut oder schlecht ist, aber Rußland ist auch als Schutzmacht aufgetreten. Heute aber glauben wir nicht, daß wir eine Schutzmacht brauchen. Wir möchten unsere Beziehungen mit unserer Umgebung frei gestalten, auch wenn wir zur Zeit sehr große Probleme in der Region haben.

Sie wissen ja, daß nicht nur die Grenze zu Aserbaidschan, sondern auch zur Türkei völlig blockiert ist. Dadurch wachsen natürlich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Armenien. Wir streben nach Westen, aber paradoxerweise ist der Vertreter des Westens die Türkei, mit der wir sehr komplizierte historische Probleme haben. Rußland dagegen, das in anderen Beziehungen vermutlich als ein östliches Land gilt, ist für Armenien westlicher als die türkische Kultur. Für Armenien ist es wichtig, daß Europa und Rußland eng zusammenarbeiten.

Auch die südliche Seite ist für uns wichtig. Wir pflegen traditionell sehr gute Beziehungen mit den arabischen Ländern, mit dem Iran, mit den Ländern des Mittelmeerraums. Auch heute betrachten wir das Schwarze Meer als eine natürliche Grenze zwischen dem Kaukasus und den Balkanländern. Wir führen trilaterale Gespräche mit Georgien und Bulgarien sowie mit Georgien und Rumänien, und wir können uns vorstellen, daß wir durch und mit Georgien unsere Beziehungen zu den Balkanländern intensivieren, um Handel und wirtschaftliche Beziehungen zu aktivieren. Für uns ist wahrscheinlich der südliche Teil Europas viel wichtiger als der Nordkaukasus.

Ssadig: Der Transkaukasus braucht Stabilität und Frieden, um sich normal zu entwickeln. Alternativen gibt es nicht. Das ist die Position von Staatspräsident Alijew. Das zeigt auch die Geschichte. Aus der Geschichte muß man lernen, dabei aber an die Zukunft denken. Wer an die Zukunft denkt, der muß heute Grundlagen schaffen. Wir sind optimistisch und glauben an den Sieg der Vernunft. Wenn es Fortschritt und gute Lebensbedingungen für unsere Völker geben soll, müssen wir über unser Kaukasisches Haus nachdenken, damit es dort Stabilität, Frieden, Freundschaft - ich habe keine Scheu, den Begriff Freundschaft auszusprechen - gibt.

Gabaschwili: Eine so interessante Region wie den Transkaukasus gibt es nicht sehr oft. Es sind drei gemeinsame, aber zugleich völlig unterschiedliche Länder. Wenn es nur ein wenig mehr Aufmerksamkeit für diese Region gäbe, wäre es möglich, dort ein richtiges Paradies zu schaffen - wiederzuerschaffen. Die Menschen sind flexibel, sie sind hochgebildet, ihre Mentalität ist sehr interessant, es ist eine sehr offene Region.

Nun reden wir natürlich über neue wirtschaftliche Möglichkeiten und geopolitische Interessen. Aber wir reden auch über unsere eigenen Interessen, denn auch wir wollen etwas: Unabhängigkeit, ein gutes Leben, eine normale wirtschaftliche Entwicklung, einfach Ruhe und Harmonie. Wir haben schon viel erreicht auf dem Weg unserer Selbstbestimmung.


Auf der Welle der Traditionen in die Moderne
von
Alexander Iskanderjan, Politologe und Kaukasusexperte


Aufgrund seines Erdöl- und Erdgasreichtums hat Aserbaidschan in wirtschaftlicher Hinsicht bessere Perspektiven als Armenien und Georgien
In der Kaukasusregion gärt es nach wie vor. Der Rücktritt des armenischen Präsidenten und das Attentat auf das georgische Staatsoberhaupt sind Anlaß, sich mit dem Stand des staatlichen Aufbaus und der Entwicklung der Demokratie in Armenien, Aserbaidschan und Georgien auseinanderzusetzen. Mehr als sechs Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion findet man in bezug auf die Wirtschaftsorientierung und -entwicklung nicht mehr viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen Ländern. Allen drei Ländern gemeinsam ist allerdings das Fehlen demokratischer und nationalstaatlicher Traditionen, was den Neuaufbau der politischen Systeme nicht unwesentlich erschwert. Charakteristisch für alle drei Kaukasusrepubliken war eine in der Zerfallsphase der Sowjetunion existierende radikale Opposition, die heute in keiner Weise an der Macht partizipiert. Während in Aserbaidschan Wandlungen nur von der "Partei der Macht" selbst initiiert werden können, gibt es in Armenien eine katastrophale Entfremdung der Macht vom Volk und der Intelligenz, während sich die georgische Gesellschaft noch mühsam vom Trauma des Bürgerkrieges erholt.


Die russische Nationalitätenpolitik im Kaukasus: Konzeptuelle Vision
von
Ramasan Abdulatipow, stellvertretender russischer Ministerpräsident, verantwortlich für den Nordkaukasus


Begriffe wie Nation, nationale Würde und nationale Traditionen sind fester Teil des Bewußtseins der kaukasischen Völker geworden
Neben historischen Faktoren und geopolitischen Interessen bestimmen vor allem die Nationalitätenkonflikte, der Tschetschenienkonflikt und das Streben Tschetscheniens nach Unabhängigkeit, das Anwachsen einer spezifischen Form der Kriminalität und der wieder erstarkende Islam, häufig auch in aggressiv fundamentalistischer Ausprägung, der wirtschaftliche Verfall und in dessen Folge eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und Verarmung der Bevölkerung die kaukasischen Realitäten. Die Gefahr einer Balkanisierung der Region zwingt zu einem Umdenken und einer Neuorientierung der russischen Politik gegenüber dem Kaukasus insgesamt. Insbesondere verfolgt die föderale Zentrale auch das Ziel, sich nicht als dritte Konfliktpartei in die Auseinandersetzungen einbinden zu lassen.


Belarussische Mafia bis in die Präsidialverwaltung?
von
Borislaw Gussinski, freier Journalist


Vielen Hinweisen nach sind einige führende Politiker aus der Umgebung von Präsident Lukaschenko mit mafiosen Strukturen verbunden
Nach Angaben des belarussischen Innenministeriums agieren in Belarus mehr als 230 kriminelle Gruppen, die auf Landes- und regionaler Ebene straff organisiert sind. Während in Kleinstädten Gruppen mit bis zu 25 Mitgliedern aktiv sind, sind die Industriezentren in der Hand mächtiger krimineller Vereinigungen mit mehr als hundert Angehörigen. Absprachen über die Einflußbereiche, der Zusammenschluß zu größeren Vereinigungen und eine enge Abstimmung ihrer Aktivitäten haben die Macht dieser Guppen gestärkt. Das organisierte Verbrechen zielt heute darauf ab, die Kontrolle über die Schlüsselindustrien und Banken zu erlangen, auch, indem man beispielsweise Mittelsmänner in die Schaltzentralen der politischen Macht einschleust. Die technisch, finanziell und materiell schlecht ausgestatteten staatlichen Rechtsschutzorgane haben dem nichts entgegenzusetzen.


"Historischer Montag" - nur ein Beleg für die Unwägbarkeit der russischen Politik?
von
Galina Tschinarichina, Politologin


Ohne daß sich die Krise angedeutet hätte, entließ Präsident Jelzin am 23. März die gesamte Regierung und schlug als neuen Ministerpräsidenten Sergej Kirijenko vor
Am 23. März wurde die gesamte russische Regierung entlassen, wobei Viktor Tschernomyrdin, Anatoli Tschubais und Anatoli Kulikow sogar per "personenbezogenem" Präsidentenerlaß ihrer Ämter enthoben wurden. Kurz darauf präsentierte Präsident Jelzin seinen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten Sergej Kirijenko, und gab zugleich bekannt, daß er Kirijenko der Duma dreimal zur Abstimmung vorschlagen werde. Lehnt die Duma ihn dreimal ab, droht ihr die Auflösung und die Ansetzung von Neuwahlen. Die derzeitige "Krise" belegt jedenfalls, daß sich Politik in Rußland völlig unwägbar entwickelt und sich das Machtzentrum mehr und mehr in den Kreml verlagert, wobei niemand genau einschätzen kann, welche Oligarchengruppe dort das Sagen hat. Zugleich werden sowohl dem legislativen als auch dem exekutiven Machtzweig die eigene Schwäche und Ohnmacht vor Augen geführt.





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