Gesellschaft

Abgrund der Armut in einem reichen Land [ Volltext ]
Bildungswesen - Uni für die Reichen, Armee für die Armen [ Abstract ]
Gesundheitswesen in der Ukraine - Mit leeren Taschen [ Abstract ]
Gesundheitswesen in Belarus - Der Zwang zu Reformen [ Abstract ]
Das tadschikische Gesundheitswesen auf dem Prüfstand [ Abstract ]

Abgrund der Armut in einem reichen Land
von
Dr. Wladimir Miljutenko, Journalist, Moskau


Die Zahlen belegen es: die Kluft zwischen Arm und Reich klafft in Rußland immer weiter auseinander. Und dabei ist Rußland ein überaus reiches Land: reich an Fläche, an Wäldern, an Gewässern und vor allem an Bodenschätzen. Zudem ist das intellektuelle und Industriepotential des Landes hoch. Aber die Mehrheit der Menschen hat durch die seit 1991 eingeleiteten Reformen verloren und wird immer ärmer - die Realeinkommen sind gesunken, die Ersparnisse aufgefressen, die Lebenshaltungskosten extrem gestiegen. Der Masse gegenüber steht eine kleine Gruppe Reicher und Mächtiger, die sich ihren Reichtum zumeist illegal angeeignet und die Gewinne ins Ausland transferiert haben.

Während meiner Tätigkeit in der Bundesrepublik wurde mir eine Frage besonders oft gestellt: Wie kommt es, daß die Bevölkerung in dem doch so reichen Rußland so arm ist? Es ist in der Tat paradox: ein Land, das so reich an Bodenschätzen ist und das über ein so hohes industrielles und intellektuelles Potential verfügt, findet sich im Entwicklungsindex der UNO auf Rang 63 und ist damit in den letzten dreizehn Jahren um dreizehn Plätze gefallen. Wie kann es sein, daß es Rußland, das 3,5 Prozent der Erdoberfläche einnimmt und über siebzig Prozent aller Bodenschätze quer durch das Periodensystem verfügt, so schlecht geht? Die Antwort fällt einem nicht gleich ein.

Nach dem Tod Stalins besaß die Sowjetunion 2100 Tonnen Goldreserven. Diese wurden in den Jahren der Stagnation aufgezehrt. Mit ihren 364 Tonnen steht die Russische Föderation heute hinter den USA (8000 Tonnen), Deutschland (2960 Tonnen), Frankreich (2546 Tonnen), Japan (754 Tonnen) und China (392 Tonnen) auf Platz 6 in der Welt. Rußland ist dollarifiziert, und diese Währung ist ja bekanntlich nicht durch Gold gedeckt. Heute gibt es in Rußland weniger Rubel als Dollar.

Die Produktivität in den USA ist fünf- bis sechsmal höher als in Rußland. Doch die Löhne sind fünfzehnmal und mehr so hoch
 
Nikita Chruschtschow versprach dem Land schon für die 80er Jahre den lichten Kommunismus, heute aber geht es darum, wirtschaftlich mit Portugal, dem "Schlußlicht" Westeuropas, gleichzuziehen. Sechzig Prozent aller Schwarzerdeböden befinden sich in Rußland, trotzdem müssen wir Getreide in den USA und Kanada kaufen. Fleisch importieren wir aus der EU, Argentinien und China. Ebenfalls sechzig Prozent der Weltreserven an Erdöl und Erdgas werden in Rußland erschlossen, und trotzdem ist das Land beim Internationalen Währungsfonds, dem Londoner Club und anderen internationalen Finanzinstitutionen hoch verschuldet. Die russische Pro-Kopf-Verschuldung beläuft sich auf etwa 1000 Dollar.

In den Jahren der Reformen hat sich Rußland sozusagen zweigespalten: in ein reiches, das im Wohlstand lebt, und in ein armes von vielen sozialen und wirtschaftlichen Problemen gebeuteltes Rußland. Im reichen Rußland leben etwa fünfzehn Prozent der Bevölkerung; im armen die restlichen 85 Prozent. Im ersteren sind 85 Prozent aller Bankersparnisse und 57 Prozent aller Einkommen konzentriert sowie 92 Prozent aller Eigentumserträge und 96 Prozent aller Ausgaben für den Devisenkauf. Im letzteren sind es also nur acht Prozent der Eigentumserträge und nur fünfzehn Prozent der Bankersparnisse.

Die Lebensqualität in beiden "Ländern" ist kaum zu vergleichen, was notwendigerweise zu Spannungen in Gesellschaft und Wirtschaft führt, den Konflikt zwischen Reich und Arm verschärft, die geistige Einheit zerstört und am sozialen Wohlbefinden der Nation nagt.

Nach Schätzungen der Wirtschaftssektion der Russischen Akademie der Wissenschaften beträgt der Gesamtwert des russischen nationalen Reichtums (Böden, Wälder, Industrie und Infrastruktur) 320 bis 400 Trillionen Dollar. Doch nur fünfzehn bis zwanzig Prozent davon sind Teil des Produktionsprozesses und bilden so den wahren Reichtum der Nation. Somit ist die funktionierende Wirtschaft etwa 48 bis achtzig Trillionen Dollar oder 320000 bis 530000 Dollar pro Kopf der Bevölkerung wert.

Erwirtschaftet wird mit diesem Potential aber nur ein Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 446 Milliarden Dollar im Jahr (etwa 3000 Dollar pro Einwohner). Einige Zahlen zum Vergleich: das Bruttoinlandsprodukt der USA beträgt 7580 Milliarden Dollar, das von Japan 4607 Milliarden Dollar und das von Deutschland 2354 Milliarden Dollar. Dabei verfügen die USA nur über die Hälfte der entsprechenden Naturschätze pro Kopf der Bevölkerung, die Bundesrepublik über ein Sechstel und Japan sogar nur über ein 22stel.

Experten schlußfolgern, daß dies unter anderem an der ineffektiven Verwaltung des nationalen Reichtums liegt. Hinzu kommt, daß in Rußland beinahe drei Viertel der nationalen Schätze in der Hand von nur zwölf Personen sind. 77 Prozent des Erdöls werden von fünf Privatunternehmen gefördert - die ihre Gewinne aus dem ziehen, was bereits zur Sowjetzeit entdeckt und erschlossen wurde. Fachleute zählen Bodenschätze zu den nichterneuerbaren Ressourcen. Dmitri Mendelejew meinte beispielsweise, daß das Verbrennen von Erdöl in etwa wie das Verheizen von Banknoten sei. Eine allein auf den Export von Bodenschätzen zugeschnittene Volkswirtschaft verheizt quasi ihr eigenes Geld. Der Staat, der dies zuläßt, ist wie ein verrückter Verschwender, der das von Gott Geschenkte im Ofen verbrennt. Allein die Erdölunternehmen bleiben dem russischen Staat zwei bis vier Milliarden Dollar an Steuern schuldig.

All dies wurde nur durch die Politik der Plünderung des nationalen Reichtums ermöglicht. Als Anatoli Tschubais und Jegor Gaidar den Russen die "Voucher" (Privatisierungsgutscheine) vorstellten, gaben sie an, daß jeder Schein dem Wert von zwei Pkws Marke Wolga entspreche. Die Privatisierung selbst sind sie dann ähnlich angegangen wie Stalin einst die Kollektivierung: Sie entstaatlichten, was sonst nirgendwo in der Welt in privaten Händen ist. Für einen Apfel und ein Ei konnten einige wenige Menschen, die der Macht, der ehemaligen Partei- und Komsomolnomenklatura sowie den Geheimdiensten nahestanden, Ölgesellschaften, Rüstungsbetriebe, Bergwerke und Forschungsinstitute an sich reißen.

Sie wählten nicht die normale Reformstrategie einer sozial orientierten Gesellschaft, die da heißt, daß keine der von der Regierung beschlossenen Maßnahmen die Lebensbedingungen des Volkes verschlechtern darf. Nein, ihr Motto lautete: "Wir müssen jetzt unsere Gürtel etwas enger schnallen, damit es uns später besser geht." Doch diese Verbesserung hat das Volk bisher nicht erlebt. Der Mensch und das Soziale zählen nichts mehr, die Produktion hat sich halbiert, das reale Einkommen ist um das 2,5fache zurückgegangen, das Land versinkt in Kriminalität. Gleichzeitig bewegen sich viele Preise bereits auf Weltniveau.

Für die neue Elite dagegen ist das Goldene Zeitalter angebrochen. Unter Premierminister Gaidar tauchten die Figuren in bordeauxfarbenen Sakkos, Symbole der "primären Kapitalakkumulation", auf. Später tauschten sie ihre billigen Sakkos gegen respektable Anzüge aus den Pariser Salons. Die Reformen haben eine kleine Gruppe reich gemacht und die Mehrheit der Bevölkerung ruiniert. Die neuen Oligarchen sind nicht zu "Lokomotiven der neuesten Geschichte" geworden - sie haben weder das kleine und mittlere Unternehmertum "angekurbelt" noch die haushaltsabhängig Beschäftigten und die Sozialfälle (unter diesen verstehen wir unter anderen Rentner, Kinder, Behinderte) ins Schlepptau genommen.

Nach der neuesten Forbes-Liste belegt Rußland heute nach der Zahl seiner Milliardäre den 4. Platz in der Welt und folgt somit den USA, Europa und Japan. Noch vor drei Jahren fand sich überhaupt kein Russe auf der Liste. Die Mannschaft der russischen Milliardäre ist die jüngste in der Welt, und ihr Vermögen wächst am schnellsten. Die meisten sind noch keine vierzig Jahre, und alle verdanken ihr Vermögen ihrer Nähe zur Macht.

Im Jahre 2002 ist Rußland in bezug auf den Konsum von Luxusgütern auf den zweiten Platz weltweit vorgerückt. In den respektabelsten Schulen Großbritanniens, der USA und Australiens findet man nun die Sprößlinge der russischen Elite, sie stellen mittlerweile die drittstärkste Gruppe. Von den hundert einflußreichsten russischen Industriekapitänen haben sich bereits 64 im Ausland eingerichtet. Und betrachten wir die Gruppe der hundert wichtigsten Politiker, so müssen wir feststellen, daß mindestens ein Drittel einen zweiten Wohnsitz im Ausland hat. Die Elite betrachtet ihre Heimat immer mehr wie einen "Werkschuppen" - gut, um zu arbeiten und zu verdienen, aber zu dreckig, um gut zu leben...

Die neuen Oligarchen haben einen ungezügelten Appetit, sie sind zu wahren Krebsgeschwüren für die Gesellschaft mutiert. Staatliches Eigentum im Wert von neunzig Milliarden Dollar wartet noch auf die Privatisierung, das ist rund ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes. Gierig schielen sie auf all diesen Reichtum - auf die Gasindustrie, die Eisenbahnen, den Energiesektor, die Landwirtschaft, den Markt der Finanzdienstleistungen und die Rentenversicherungen. Diejenigen, die dem "Thron" am nächsten stehen, möchten all dies nun einsacken und die Russen so noch ärmer machen.

In den letzten zehn Jahren wurden 400 Milliarden Dollar aus Rußland herausgepumpt, ein Vielfaches dessen, was wir westlichen Gläubigern schulden, und auch viel mehr als alle in Regierungsprogrammen vorgesehenen Investitionen zusammen. Die durch den Ausverkauf des Landes erwirtschafteten Profite sind nie zurückgekehrt, sondern auf diversen Bankkonten gelandet: auf Zypern (allein hier sind etwa 12000 Firmen aus Rußland registriert!), auf Malta, in der Dominikanischen Republik, in Panama, auf den Cook Islands oder St. Vincent, wo die Offshorezonen liegen - Wäschereien für "schmutziges" Geld.

54 Millionen russische Bürger leben unterhalb der Armutsgrenze. ...
 
Russische Historiker erklären, daß Rußland bislang zweimal finanziell zugunsten des Westens zur Ader gelassen wurde und damit dessen Entwicklung befördert hat: in den Jahren 1918 bis 1922 und in den 90er Jahren. Beide Male verlor Rußland dabei fast seine gesamten Goldreserven - ein Segen für westliche Banken - und gab Milliarden der Spargelder für den Import von Waren und Maschinen aus dem Westen aus. Ja, der Wohlstand einer Reihe von Ländern geht auf die Schwäche Rußlands zurück. Die sogenannten Tschelnoki - Kleinhändler, die von Einkaufsfahrten ins Ausland leben - haben Millionen Dollar in die türkische Textil- und Lederindustrie investiert. Der rasche wirtschaftliche Aufbau Polens gelang durch die Produktion "italienischer" Mode, von "schottischem" Whisky und "schwedischem" Wodka sowie "französischem" Parfüm für den russischen Markt.

Daß der Westen auch heute das Geld der "Neuen Russen" braucht, ist kein Geheimnis. Rußland ist das neue Eldorado. Die USA haben bereits verkündet, daß sie zehn bis zwanzig Prozent der von den "Neuen Russen" eingeführten Gelder für die technologische Entwicklung der USA verwenden möchten. Glücklicherweise gibt es nicht so viele Russen, die über "großes" Kapital verfügen - vielleicht sind es 10000 -, und deren Leben, Geschäfte und Finanzfluß zu überwachen wird für die USA wohl nicht allzu schwierig sein.

In letzter Zeit wurde in Rußland die Diskussion rund um die Abgaben für die Nutzung von Bodenschätzen entfacht. In anderen an Bodenschätzen reichen Ländern dienen diese Steuern in der Regel dem Allgemeinwohl, doch in Rußland fließen sie als grauer Finanzstrom aus der Schattenwirtschaft ins Ausland, wo diese Gelder in illegalen Geschäften, Offshores und der organisierten Kriminalität rotieren.

Präsident Wladimir Putin selbst hatte seine Doktorarbeit der Steuer auf Naturschätze gewidmet. In seiner Arbeit hieß es noch "rationelle Nutzung der Naturressourcen". Heute ist die Bevölkerung allerdings der Meinung, daß der natürliche Reichtum ungerecht genutzt wird. In Norwegen gehört die Öl- und Gasindustrie dem Staat, und die Erträge aus dem Export werden für die kommenden Generationen gespart. Die Krankenversicherung und das Bildungswesen werden davon finanziert, Bausparverträge unterstützt, hohe Renten gesichert, kinderreiche Familien subventioniert. Ähnlich verhält es sich auch auf Alaska und in Kuwait.

Viele Wirtschaftsexperten und Politiker fordern eine Korrektur an der Verteilung der Nutzungsrechte an Bodenschätzen. In Rußland ist es heute so, daß das Erdöl solange dem Staat gehört, wie es unter Tage ist. Sobald es die Erdoberfläche erreicht, gehört es aber den privaten Ölgesellschaften. Und das soll gerecht sein? Das Erdöl muß dem Staat und der Allgemeinheit gehören, und nur der Staat soll es profitabel verkaufen dürfen. Und die Ölunternehmen sollen soviel Geld behalten dürfen, daß sie sich normal entwickeln können. Gäbe es eine solche neue Steuer auf Naturschätze, stände Rußland mehr oder weniger ein zweites Bruttoinlandsprodukt zur Verfügung - fünfzig bis sechzig Milliarden Dollar, so die Schätzung von Akademiemitglied Dmitri Lwow.

Im Vorfeld der anstehenden Wahlen hat noch ein weiteres Problem an Aktualität gewonnen - die Reform des Pro-Kopf-Einkommens. Dabei geht es um eine drastische Erhöhung (mindestens eine Verdoppelung) des Anteils der Löhne am Bruttoinlandsprodukt. Gegenwärtig liegt dieser Anteil etwa bei der Hälfte des Anteils in den entwickelten Industrieländern. Abhängig vom Anteil der Lohngelder ist aber die Kaufkraft der Bevölkerung, und je niedriger die Löhne, desto niedriger ist die Nachfrage auf dem Markt, und bei geringer Nachfrage gibt es kein Produktionswachstum.

Während meiner Zeit in der Bundesrepublik äußerten viele meiner Kollegen und Zuhörer die Meinung, daß die Russen so wenig verdienen, weil sie so schlecht arbeiten und weil die produzierten Waren auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sind. Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich ist die Produktivität in den USA fünf- bis sechsmal höher als in Rußland. Doch die Löhne sind fünfzehnmal und mehr so hoch wie die russischen. Paradoxerweise arbeiten wir desto besser, je schlechter wir leben. Nach Angaben von russischen Wirtschaftsexperten erarbeitet heute ein russischer Arbeiter im Vergleich zu einem amerikanischen für einen Dollar Lohn das dreifache Bruttoinlandsprodukt.

... Die "schwarzen Finanzlöcher", in denen Geld verschwindet, lassen sich endlos aufzählen
 
Nur etwa die Hälfte des realen nationalen Einkommens schlägt sich heute in Form von Steuern im Staatssäckel nieder. Die andere Hälfte wird durch unredliche Geschäftsleute, verschiedene Vermittler und Kriminelle vor der Steuer "gerettet". Fast zwölf Millionen Russen sind heute in der Schattenwirtschaft beschäftigt, die nach Schätzungen ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes erzeugt. Deswegen ist das vermeintlich reiche Rußland immer noch ein Abgrund der Armut. Zudem leidet die Wirtschaft an der verzerrten Geldverteilung: die Banken haben wie die Ölbosse viel. Der reale Wirtschaftssektor - Leichtindustrie, agrarindustrieller Komplex und Maschinenbau - jedoch um so weniger. Es scheint, als gebe es eine Berliner Mauer ums Geld: Kredite kann man angesichts der völlig überhöhten Zinssätze nicht aufnehmen. Die Produktion kann nur auf Basis von Eigenkapital gesteigert werden - und das ist verschwindend gering! Dabei lebt doch die ganze Welt von Krediten. Ein Land aber, das kaum etwas selbst herstellt, kann nicht reich werden. Ein vernünftiges Gefälle zwischen Arm und Reich stimuliert die Nachfrage und kurbelt die Wirtschaft an. Rußland aber betet den Markt an und baut seinen Kapitalismus auf dem Rücken der verarmten Bevölkerung auf, die nur das Notwendigste verbraucht.

Auch dies ist ein Grund, daß sich weder internationale Investoren noch die aus Rußland illegal ausgeführten Milliardenbeträge anlocken lassen. Kapital fließt nicht dorthin, wo die Brieftaschen der Verbraucher leer sind, wo Rohstoffhändler Gewinne von 200 bis 300 Prozent einfahren, während es in der verarbeitenden Industrie lediglich fünfzehn Prozent sind. Die Volksrepublik China liegt nach der Höhe der ausländischen Investitionen weiter auf Platz 1, Rußland aber nimmt nach der UNO-Liste Platz 104 ein - zwischen Syrien, Guinea und Ghana.

Es gibt immer noch keinen normalen Mittelstand. Der Mittelstand in Rußland - das sind nicht Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler, Offiziere, mittelständische Unternehmer, hochqualifizierte Arbeiter und Bauern, sondern die Beschäftigten der Dienstleistungsunternehmen und der Unterhaltungsindustrie sowie Staatsbeamte und Finanzrentiers aller Art.

Übrigens weisen auch unsere Oligarchen, die einen leichten Start hatten, bemerkenswerte Biographien auf. Michail Chodorkowski hat einst mit Computern und Gorbatschow-Matrjoschkas gehandelt, Boris Beresowski spekulierte mit Autos, Roman Abramowitsch produzierte Kinderspielzeug aus Plastik. So sind die russischen Neureichen durchaus auf den Geschmack der Reformen gekommen, die normalen Bürger hingegen kaum. Zudem haben die Regierenden Bildung und Wissenschaft ebenfalls ungeschützt dem Markt überlassen, nun tun sie so, als sei dies Teil einer modernen Wirtschaftspolitik. Für den russischen Normalverbraucher weisen die Reformen nur ein Ergebnis auf: sein Realeinkommen hat sich halbiert. Seine Ersparnisse wurden von der Inflation, der Krise von 1998 sowie von verschiedenen, auch halbstaatlichen Finanzpyramiden aufgefressen. Und er ist mit permanenten Gebührenerhöhungen konfrontiert - für Heizung, Telefon und öffentliche Verkehrsmittel. 54 Millionen Bürger unseres Landes leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Und die "schwarzen Finanzlöcher", in denen das Geld der Russen verschwindet, lassen sich endlos aufzählen.

Das reiche Rußland wurde auch durch den unerträglichen Rüstungswettlauf in die Knie gezwungen. Es war teuer, moderne Streitkräfte aufzubauen, doch sie zu unterhalten ist noch teurer. Der Wert der gesamten russischen Militärstreitkraft - Atombomben, Langstreckenraketen, U-Boote, Panzer, Flugzeuge und Logistik - beziffert sich auf 550 Milliarden Dollar, das sind zehn Jahreshaushalte! In den letzten zehn Jahren haben der Ausverkauf unserer wissenschaftlichen Leistungen und die Enttarnung russischer Agenten im Ausland nach vorsichtigen Schätzungen Verluste in Höhe der Hälfte der russischen Goldreserven verursacht.

Und dann haben wir den Krieg in Tschetschenien. Dieser ist ebenfalls ein Krieg des großen (illegal verdienten) Geldes. Ohne dieses gäbe es nämlich keinen Terrorismus. Wie in der Presse veröffentlicht wurde, hat der Tschetschenische Krieg den russischen Staatshaushalt bislang etwa hundert Milliarden Dollar gekostet!

Unternehmen aus aller Welt bemühen sich um Programmierer aus Rußland, während unser Land gleichzeitig mit nur etwa 0,5 Prozent am Weltmarkt für Informationstechnologien teilnimmt. Da ich die Stärke unserer mathematischen Schule aus eigener Erfahrung kenne, tut es mir ganz besonders leid, daß international Indien und in Europa Finnland und Irland in der Computertechnologie führend sind.

Würde ich heute gefragt, wann wir in Rußland endlich ein bißchen Wohlstand erreichen, müßte ich ehrlich antworten: "Keine Ahnung." Die genialen Worte von Nekrassow: "Du scheußliches, Du üppiges, Du machtvolles und Du kraftloses Mütterchen Rußland..." sind auch heute, nach mehr als hundert Jahren, noch aktuell. In Rußland hat bislang stets nur der politische Wille einer Person das Steuer herumreißen können, nämlich der des Zaren oder der des Präsidenten. Putin ist um sein Erbe nicht zu beneiden - die Wirtschaft ist eine Ruinenlandschaft, der Staat ist schwer regierbar, die Gesellschaft ist der Anarchie nahe. Der Präsident möchte Rußland zu einem Land des wirtschaftlichen Wohlstandes machen und nebenbei die alte Würde und die alte Rolle in der Weltpolitik wiederherstellen. Mit Gottes Hilfe, wie es so schön heißt.
zum Seitenanfang


Bildungswesen - Uni für die Reichen, Armee für die Armen

von
Alexej Koslow, Journalist, Moskau


Am Ende der Sowjetzeit war die Mittelschule obligatorisch - und kostenlos
 
Vieles wurde in Rußland nach dem Zerfall der UdSSR aufgegeben oder basierend auf unausgegorenen Reformideen verändert, umstrukturiert oder neu eingerichtet. Dies gilt auch für das Bildungswesen. Bereits 1992 wurde das Gesetz "Über die Bildung" verabschiedet, 1996 seine revidierte Fassung angenommen. Nun steht die Verabschiedung des nationalen Modernisierungsprogramms bevor, das eine allgemein zugängliche und kostenlose Allgemeinbildung in einem einheitlichen Bildungsraum sichern soll. Vorgesehen ist die Einführung der Zwölfklassenschule, die Abschaffung der Aufnahmeprüfung an den Universitäten, die Einführung einer Einheitlichen Staatlichen Prüfung und die Finanzierung der Studierenden in Abhängigkeit von ihren schulischen Abschlußzeugnissen. Der Widerstand gegen einige Vorhaben ist groß.
zum Seitenanfang


Gesundheitswesen in der Ukraine - Mit leeren Taschen

von
Juri Durkot, Journalist, Lwiw


Das Sinken des Lebensstandards, fehlende Vorsorgeuntersuchungen und unzureichende Behandlung haben zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung geführt
Von einer umfassenden gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung ist die Ukraine weit entfernt. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Immer weniger Geld steht im Haushalt für den Gesundheitsbereich zur Verfügung, während zugleich gefährliche Krankheiten wie Tuberkulose und Aids auf dem Vormarsch sind. Der Staat hat es bislang verpaßt, Alternativen zum haushaltsabhängigen Finanzierungssystem aufzuzeigen. Nun aber sind Reformkonzepte dringend vonnöten, um die finanzielle Situation von Ärzten und medizinischem Personals zu verbessern und die Gesundheitsversorgung auf dem Land zu sichern.
zum Seitenanfang


Gesundheitswesen in Belarus - Der Zwang zu Reformen

von
Borislaw Gussinski, Journalist, Minsk


Reformen sind vonnöten - noch fehlt es an einem privaten Sektor im belarussischen Gesundheitswesen
 
Der Privatsektor hat sich im Gesundheitswesen der Republik Belarus noch nicht stark ausgebildet, während das staatliche Gesundheitswesen in einer schwierigen Situation ist und umfassender Reformen sowie vor allem einer besseren Finanzierung bedarf. Denn die Ärzte können von ihren Gehältern nicht leben, die Ausstattung von Krankenhäusern und Polikliniken kann nicht modernisiert werden. Gleichzeitig hat sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung trotz einiger positiver Trends in den letzten Jahren drastisch verschlechtert. Nun wird im Gesundheitsministerium über eine grundlegende Reform nachgedacht, mit der Ungleichheiten zwischen den Regionen beseitigt werden sollen.
zum Seitenanfang


Das tadschikische Gesundheitswesen auf dem Prüfstand

von
Alischer Sarajew, Assistent an der Fakultät für Chirurgie der Medizinischen Universität "Abu ibn Sino", Duschanbe


Negative wirtschaftliche und soziale Tendenzen, soziale Unruhen, Kriege und Migration haben sich auf die physische und psychische Gesundheit der tadschikischen Bevölkerung ausgewirkt
 
Vor dem Zerfall der Sowjetunion galt Tadschikistan als eine der ärmsten Sowjetrepubliken und erhielt die höchsten Zuwendungen pro Kopf der Bevölkerung aus der Moskauer Zentrale. Nach der Unabhängigkeit wurde die Republik von einem langjährigen Bürgerkrieg erschüttert. Mit Beendigung des Bürgerkrieges 1997 stand das Land vor dem wirtschaftlichen Ruin. Das Gesundheitswesen lag am Boden, während der Bedarf an medizinischer Versorgung durch die Auswirkungen des Krieges und vieler anderer Faktoren massiv gestiegen war. Wird das Gesundheitswesen nicht reformiert, wird dies unabsehbare Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung und damit auf Wohlstand und Entwicklung des Landes haben.
zum Seitenanfang


Testen Sie WOSTOK unverbindlich im Probeabo!