Kultur

Museum Tschernobyl - lebender Organismus und Ort der Hoffnung [ Volltext ]
Dem großen Patrioten und Dichter Taras Schewtschenko [ Abstract ]

Museum Tschernobyl - lebender Organismus und Ort der Hoffnung
von
Britta Wollenweber, Redakteurin der Zeitschrift "Wostok", Berlin


Auf kaum einem der Gesichter zeigt sich auch nur die Andeutung eines Lächelns, ein Meer von riesigen, vor Traurigkeit dunklen Kinderaugen, eine Wand von Schwarzweißfotografien, die Kinder aus Tschernobyl zeigen. Sie sind die Leidtragenden der Havarie im 4. Reaktorblock des KKW Tschernobyl, die Leidtragenden der größten technologischen Katastrophe des letzten Jahrhunderts. Angesichts dieses Meeres von Traurigkeiten könnte man einen Moment versucht sein zu denken, daß die Masse das Individuum in den Hintergrund rückt, daß die Anonymität der vielen den Besucher sogar davon abhält, der Fotowand mehr als einen flüchtigen Blick, einen flüchtigen Gedanken zu schenken. Doch im Gegenteil: Jedes einzelne Gesicht nimmt gefangen, in jedem einzelnen Porträt sucht man, ob sich da nicht doch irgend etwas finden läßt - nennen wir es Glück - Kinderglück -, das einen ein wenig trösten würde.

Dreht man sich um, blickt man in ebensolche großen, von Traurigkeit schwarzen Kinderaugen. Nur schauen diese einen direkt an, steht der lebende kleine Mensch da. Vielleicht eines der mehr als 1600 Kinder, bei denen heute allein in der Ukraine Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde, nicht zu reden von den unzähligen Fällen im noch wesentlich stärker vom radioaktiven Niederschlag betroffenen Belarus. Mit dem kleinen Jungen, der vor einem steht, bekommt die Zahl auf einmal ein Gesicht und das Ausmaß der Katastrophe eine Gestalt.

Der zentrale Ausstellungssaal im Museum "Tschernobyl" verlangt dem Besucher viel ab, denn die Exposition appelliert unmittelbar an das Gefühl, zielt auf die Fähigkeit mitzuleiden, Traurigkeit zuzulassen. Der zentrale Saal scheint all dies einzufordern, bietet aber keinen Schutz vor dem, was er beim Besucher auslöst, und soll wohl auch keinen bieten. Über die Konfrontation mit im Prinzip durch ganz unspektakuläre Mittel hervorgerufenen Gefühlen soll der Besucher erfahren, was Tschernobyl für die Menschen eigentlich bedeutet, und dabei geht es nicht um das Materielle und das Meßbare. In diesem Saal geht es nicht um die technischen Werte des Ausmaßes der Havarie. Schließlich, wer könnte wirklich etwas damit anfangen, daß mit der Explosion und dem anschließenden Brand zwölf Hexabecquerel - das sind zwölf Milliarden Milliarden Becquerel - Radioaktivität in die Atmosphäre abgegeben wurden; wer kann sich real etwas unter 24390 Jahren Halbwertszeit für Plutonium-239 vorstellen; wer eine Ahnung entwickeln, was es bedeutet, in kontaminierten Gebieten zu leben, die eine Bodenbelastung von 185000 Becquerel Cäsium-137 pro Quadratmeter aufweisen. Und wer mag auch nur eine leise Vorstellung von den 4,9 Prozent vergifteten ukrainischen Territoriums oder den 23 Prozent des belarussischen Staatsgebietes entwickeln?

Der kleine Junge, mit dem ich einen "Augen"blick geteilt habe, begleitet mich weiter durch die Ausstellung - wortlos. Wir betrachten Kinderbilder, die hellen, leuchtenden stehen für das Leben vor Tschernobyl, sind Erinnerung an Kinderglück unter blauem Himmel auf dem Land. Die dunklen, schweren berichten von Angst und Verzweiflung, dem Verlust von Sicherheit und Unbeschwertheit. Nur wenige Bilder aus der Zeit nach Tschernobyl erzählen von der Hilfe und dem Zusammenrücken, vom Sich-Fallenlassen-Können und erfahrener Wärme. Ein Mädchen sitzt malend auf dem Boden - vielleicht ein Bild, das einmal in die bereits existierende Exposition eingehen wird. Der kleine Junge hat mir viel an Lebenserfahrung voraus. Denn er weiß, was dieses Tschernobyl bedeutet, weiß aus konkreter Erfahrung, daß das "friedliche" Atom nicht die versprochene Wärme und den Wohlstand brachte, sondern Krankheiten und auch den Tod. Dann ist da wieder nur die Hilflosigkeit.

Das Museum "Tschernobyl" in Kiew ist Gedenkmuseum an die größte technologische Katastrophe im letzten Jahrhundert und zugleich Dokumentations- und Forschungsstätte
 
Der zentrale Ausstellungssaal des Tschernobyl-Museums ist ein Saal der Fragmente, die zusammen ein Bild ergeben, das noch unfertig und nicht in sich geschlossen ist. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter haben von ihren Forschungsreisen in die tote, entsiedelte Zone im Umkreis von dreißig Kilometern um das Kernkraftwerk viele Einzelstücke mitgebracht, die von der typischen ländlichen Lebens- und Arbeitskultur im Gebiet zeugen. Seit Jahrhunderten lebten die Menschen dort eingebunden in den landwirtschaftlich geprägten dörflichen Alltag. Bis mit dem Bau des Kraftwerkes und der aus dem Boden gestampften Stadt Pripjat für die Kraftwerksmitarbeiter die "Moderne" Einzug hielt. Die kunstvoll geschnitzten und bemalten Fensterrahmen aus heute verlassenen Häusern, in denen die Familien über Generationen hinweg lebten, zeugen davon. Sie stehen für das eigentliche Tschernobyl, dieses kleine verträumte Dorf mit den hellen Häusern in großen Gärten, mit den unbefestigten Straßen, den ausgetretenen Pfaden zwischen den Häusern, dem Gemeindehaus und dem Kulturhaus - ein ukrainisches Dorf halt.

Einige der alten Dörfler sind bereits kurz nach der Havarie in die 30-Kilometer-Zone zurückgekehrt; viele fordern, daß sie wieder dorthin zurückkehren dürfen. Und es werden mehr, je länger die Katastrophe zurückliegt. Der Dörfler ist bodenständig und schlägt kaum neue Wurzeln. Ich weiß noch, daß sich bei mir ein konkreteres Bewußtsein über die Folgen von Tschernobyl eben während des Besuchs im Dorf Tschernobyl mit seinen verlassenen Häusern und wildwuchernden Gärten verfestigte. Es war die Verlassenheit des Dorfes - eines von vielen, in denen das Leben durch die Strahlung ausradiert worden war -, die den Verlust erfahrbar machte. Während das Kraftwerk mit dem vollständig zerstörten 4. Reaktorblock unter dem damals noch unbrüchigen Sarkophag, die breitangelegte Infrastruktur, die zur Erforschung der Ursachen und der Folgen für Mensch und Umwelt eingerichtet worden war, und die Stadt Pripjat mit ihren entvölkerten Wohnungen, in denen sich damals teils noch das Hab und Gut ihrer Bewohner befand - fast nichts hatten sie mitnehmen dürfen, die Evakuierung sollte doch nur für einige Tage sein -, das wirkliche Ausmaß der Katastrophe eher zu verdecken als offenzulegen schienen.

Der zentrale Saal mit seinen fragmentarischen Sichten will das Unsichtbare sichtbar machen, auch das ein Anspruch - und das sind unter anderem die Lüge und der Verrat an der eigenen Bevölkerung, der zynische Betrug an den Menschen. Das Museum "Tschernobyl" erzählt auch davon, was durch die Politik der Beschwichtigung und Verheimlichung lange verborgen blieb. Fast schmerzhaft nimmt man die "Kommunismus"-Ecke im Saal wahr: "Wir bauen den Kommunismus auf" und "Siebzig Jahre Oktoberrevolution", das System hatte es geschafft, den Mythos der sorgenden Gesellschaft, der vollkommenen Gesellschaft zu etablieren. Auch dieser Mythos brannte mit Tschernobyl aus. Der erklärte Anspruch deckte sich in keiner Weise mit der Realität. Eine Gruppe junger Mädchen diskutiert heftigst, angesichts des Widerspruchs zwischen den damals veröffentlichten Zeitungsbeiträgen, die die Beherrschbarkeit des Unglücks beschwören, und den lange unter Verschluß gehaltenen Dokumenten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. So scheint die Ausstellung auch aufzufordern, die Wahrheit zu schultern, ohne die es keine Perspektive geben wird. Auch wenn es für viele Betroffene längst zu spät ist.

Ein Teil des Dachgerüsts der Erzengel-Michael-Kirche aus Krasnje bietet einem typischen Polessje-Boot ein schützendes Dach. Weder die Kirche noch diese so besondere Form der Arbeits- und Lebenskultur existieren heute noch im realen Leben im Tschernobyl-Gebiet. Hier aber schaukelt das Boot sanft. Es ist gefüllt mit Spielzeugen, Plüschtieren und kleinen Kinderkostbarkeiten - dem Museum von Kindern geschenkt zum Gedenken an die Kinder, die lebenden, die gestorbenen. Ebenfalls aus einzelnen Stücken wurde eine Art Ikonostase geschaffen, stacheldrahtumflochten ist sie. Der Zugang in den gedacht dahinter liegenden Altarraum ist bis auf das aggressiv leuchtende Schild "Vorsicht, Strahlung!" leer. Zwei Gestalten in Schutzanzügen und mit Atemschutzgeräten auf dem Rücken stehen Wache. Schmerzhaft deutet die Installation die mit der Katastrophe verbundene Leere an.

Der zentrale Ausstellungssaal spiegelt viel von dem wider, was eigentlicher Ursprung des Museums gewesen ist. Nur ein Jahr nach der Katastrophe initiierten einige Mitarbeiter der Feuerwehrverwaltung des Kiewer Gebiets eine Fotoausstellung unter dem Titel "Andenken an Mut und Ruhm". Man wollte den beim Einsatz Umgekommenen gedenken - den Kollegen, Menschen aus der ganzen UdSSR, Menschen unterschiedlicher Berufe, Soldaten, Milizionäre. Hinter dieser kleinen, aber sehr persönlichen Ausstellung verbarg sich auch die ganze Hilflosigkeit derjenigen, die beteiligt waren und dann fragten: "Wie damit umgehen!?" Die langfristigen Folgen des Unglücks rückten gerade auch aufgrund der beschwichtigenden Politik der sowjetischen Führung nur langsam ins Bewußtsein der Menschen.

Die Resonanz auf diese erste Exposition von Betroffenen war so enorm, daß man beschloß, basierend auf der Ausstellung ein Museum zu schaffen, das zu einem Großteil den Menschen und den Opfern gewidmet sein sollte, also quasi ein Gedenkmuseum, das zur inneren Auseinandersetzung zwingt, und zum Teil Dokumentations- und Forschungsstätte werden sollte. Der Feuerwehrturm im Kiewer Stadtteil Podol, ein Baudenkmal vom Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde restauriert und dem Museum "Tschernobyl" zur Verfügung gestellt. Der ukrainische Künstler A. Gaidamak wurde mit der Entwicklung des künstlerischen Konzepts für das schwierige Thema beauftragt.

Das Museum zieht viele Besucher, darunter auch zahlreiche Schüler und Jugendliche, an - und nicht nur an den "Jahrestagen" der Tschernobyl-Katastrophe
 
Der zweite und dritte Saal sind anders vom Charakter und von der Anlage. Sie sind der Kernkraft, dem Kraftwerk, der Katastrophe selbst, dem Kampf gegen das Nichtbekämpfbare und den Liquidatoren - alles in allem waren es 600000 Menschen - gewidmet. Viele der Exponate werden erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch in diesem Teil des Museums resultiert der Gehalt der Exposition aus dem Nebeneinander von technischen Mitteln und persönlichen Dingen, von offiziellen Dokumenten, wissenschaftlichen Studien und privaten Briefen, dem Nebeneinander von Machbarkeitsglauben und Versagen. Zweifellos dient der spärliche, aber sehr bewußte Einsatz von technischen Lehrmitteln wie Computersimulationen, Videofilmen, dem Modell eines Reaktors vom Typ des Tschernobylreaktors in unserer technik- und technologiegläubigen Zeit der Glaubwürdigkeit der Exposition und dem Verstehen. Und dann sind da ja auch noch die konkreten Menschen, die Besucher der Ausstellung, darunter auch viele der Liquidatoren - erst Helden, dann vergessen. Manche bitter und mit dem Gefühl "verheizt worden zu sein von einem menschenverachtenden System", andere gelassen und aufklärerisch. Damals hat wohl keiner verstanden, worum es bei diesem Einsatz ging. Heute sind sie unter Umständen Lehrer oder Vermittler zwischen Ausstellung und Besucher.

Ich möchte das Museum "Tschernobyl" ein lebendiges Museum nennen, einen lebenden Organismus, auch einen Ort der Hoffnung. Dies hat viel mit der angedeuteten Interaktion von Besucher und Ausstellung, von Besucher und Museumsmitarbeitern, von Besucher und Besucher zu tun. Es hat damit zu tun, daß das Museum zum Austausch animiert, über Generations- und Sprachbarrieren hinweg. Es hat auch damit zu tun, daß die Ausstellung offen ist für Gegenstände und Beiträge, die von Besuchern eingebracht werden. Ein lebendiger Organismus, der sich ständig verändert und wächst, Beiträge von außen dankbar aufnimmt und vielleicht sogar braucht. Tschernobyl ist nicht die Katastrophe eines Volkes oder eines Staates. Und die Lehren aus Tschernobyl dienen der gesamten Menschheit.
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Dem großen Patrioten und Dichter Taras Schewtschenko

von
Ina Tkatsch, Journalistin, Moskau


Heute noch meint man, den inspirierenden und produktiven Geist des ukrainischen Dichters in seinem ehemaligen Wohnhaus spüren zu können
 
Taras Schewtschenko ist der anerkannte Nationaldichter der Ukraine und gilt als der Begründer der ukrainischen Literatursprache. Bereits zu Sowjetzeiten wurde der Dichter in einigen Schewtschenko-Museen geehrt. Seit der Unabhängigkeit des Landes widmet man ihm aber weit mehr Aufmerksamkeit. Denn der Inhalt seines dichterischen Werkes könnte die Ukrainer heute in ihrer Eigenwahrnehmung und ihrem Selbstverständnis als Nation unterstützen. Eines der vielen Schewtschenko-Museen befindet sich in der kleinen Schewtschenkogasse in Kiew.
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