Vorwort


Der Preis der Ordnung

Rais Kabanow,
Journalist, St. Petersburg
Im Graben lag noch die zerfetzte Jacke eines verwundeten Soldaten. Die Sonne schien. Die sommerliche Natur Anfang Juni protzte mit ihrer Frische und erweckte den Anschein von Frieden. Aber keine halbe Stunde später - die Rückkehr zur Realität: Militärposten, unfreundliche, angespannte Soldatengesichter. Nein, so sieht Frieden nicht aus. Hier, in der Nähe der inguschetischen Ortschaft Galaschki, überfielen Mitte Mai tschetschenische Rebellen eine russische Militärkolonne. Neunzehn Soldaten und einige Rebellen, die genaue Zahl ist unbekannt, kamen dabei ums Leben. Preis für die brüchige Ruhe im russischen Kaukasus.

Der Wunsch der russischen Behörden, in Tschetschenien Ordnung zu schaffen, ist ohne Frage legitim. Die letzten Jahre haben gezeigt, daß die Tschetschenen selbst und ihr Präsident Maschadow leider nicht in der Lage waren, das Chaos in den Griff zu bekommen. Fünf Jahre sind seit dem Frieden von Chassjawurt vergangen. Die Situation verschlimmerte sich und endete mit dem Bassajew-Überfall auf Dagestan Anfang Herbst 1999. Die Tschetschenen reden ungern über die Fehler der Regierung Maschadow. Aber man kann kaum glauben, daß sie zufrieden waren, mit dem was in ihrem Land passierte. Öffentliche Erschießungen und Steinigungen, Menschenraub und -handel, Eisenbahnüberfälle, Zerstörung der Ölleitungen - all dies war traurige Realität in der Republik Itschkerija.

Der Kreml andererseits wollte mit Biegen und Brechen seine Mißerfolge des ersten Tschetschenienkrieges wettmachen. Und es wurde alles Mögliche unternommen, um den tschetschenischen Präsidenten zu schwächen. Die Finanzhilfen versickerten wer weiß wo, die vereinbarte Aufbauhilfe blieb aus. Moskau hat durch seine Weigerung zur Zusammenarbeit mit dem legitim gewählten Präsidenten Maschadow Bassajew, Chattab und einigen anderen Feldkommandeuren in die Hände gespielt. Sicherlich war Maschadow nach dem 1995 eindeutig erscheinenden Sieg über die russischen Truppen im Glauben, das Land könne es als Subjekt des internationalen Rechts alleine schaffen, und nicht so sehr an der Zusammenarbeit mit Moskau interessiert. Aber fast niemand war bereit, diese Souveränität anzuerkennen. Der Kreml aber hat sich mit Grosny praktisch auf eine Stufe gestellt, indem er sich bewußt oder unbewußt in das Abenteuer des zweiten Krieges hineinziehen ließ.

Es wird heute weniger Krieg gegen die Rebellen als vielmehr gegen die Zivilbevölkerung geführt. Davon kann sich jeder überzeugen, der nach Tschetschenien fährt oder ein Flüchtlingslager besucht. Die Kampfhandlungen haben sich in die Berge verlagert, was einen neuen Flüchtlingsstrom ausgelöst hat. Das Schlachtfeld hat sich aber nicht verlagert, weil die russische Armee die Situation unter Kontrolle hat, sondern weil es die Aufständischen nicht anders wollen. Es geht ja auch für sie um die Angehörigen in den Flüchtlingslagern, die es zu schonen gilt. Wie leicht der Krieg auch in Inguschetien entflammen könnte, sieht man an diesem Überfall in der Nähe von Galaschki.

Wir erinnern uns noch sehr gut an die Fernsehbilder vom Übergangspunkt Kaukasus I, als Tausende Menschen am Verlassen Tschetscheniens gehindert wurden. Die örtlichen Behörden hatten damals klare Anweisungen bekommen. Und bis auf die Inguscheten hielten sich fast alle - Osseten, Dagestaner, Russen - daran. So kamen nach Inguschetien fast alle Flüchtlinge und mit den 250000 Flüchtlingen ist die Republik völlig überfordert.

Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die Wohnungs- und Unterbringungsnot, die mangelnde Verpflegung, die Engpässe in der medizinischen und Wasserversorgung zeugen von mangelndem Interesse der Behörden an einer friedlichen Lösung. Und das darf man nicht unterschätzen. Die massenhafte Unterstützung der Rebellen in Tschetschenien und Inguschetien hält die Rebellenbewegung am Leben. In einem Teil Rußlands, das stolz auf sein Schulsystem ist, können Zehntausende Kinder nicht zur Schule gehen. Und die 15jährigen sehen keinen Weg, als ein Gewehr zu nehmen und in die Berge zu gehen. Darum dauert der Krieg ewig und fühlen sich die Kriegsfanatiker so gut.

Die Russen bauen jetzt ihre Garnisonen auf. Die einheimische Bevölkerung - Indianer der Neuzeit - wird dabei ignoriert. Zur Zarenzeit, vor mehr als hundert Jahren, war man die Sache genauso angegangen: ein erbarmungsloser Krieg und eine Siedlungspolitik zur Absicherung des Erreichten. Auch heute noch erinnern die Namen vieler Ortschaften entlang der Trasse Moskau-Baku an diese Zeit: sie sind nach russischen Heerführern benannt, die hier die Vormacht Rußlands gegenüber den Bergvölkern behauptet haben: Slepsowskaja, Asinow-skaja, Nesterowskaja. Und die neue Kolonialzeit? Auch die neuen Slepsows, Asinows und Nesterows sind da: Troschin, Schamanow, Kim.

Keiner macht Rußland heute den Nordkaukasus streitig. Und trotzdem wird Moskau nicht müde zu betonen, daß der Nordkaukasus russisches Gebiet ist. Nur, allein mit Gewalt ist kein Land zu halten. Und es ist kaum glaubhaft, daß die für die russische Strategie Verantwortlichen die Komplexität der Probleme im Kaukasus nicht verstanden haben. Es ist unbegreiflich und entsetzlich, daß die Interessen bestimmter Gruppen in Rußland, aber auch in Tschetschenien, so über die Interessen des eigenen Landes gestellt werden.

Rußland erreichte aufgrund seiner technischen, militärischen und personellen Übermacht für den Moment einen wackeligen Status quo. Aber um welchen Preis? Tausende russische Staatsbürger, Soldaten und Zivilisten, sind auf beiden Seiten ums Leben gekommen, mehr als 300000 Menschen sind auf der Flucht. Dutzende Ortschaften sind in Schutt und Asche gelegt, Grosny völlig zerstört. Und das Töten geht weiter. Damit klarzukommen, ist nicht einfach.


Rais Kabanow, Journalist,
St. Petersburg
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