Gesellschaft


Droht Rußland eine Hungersnot? [ Volltext ]

Droht Rußland eine Hungersnot?
von
Anatoli Koslow, freier Journalist, Moskau


Mitte des Sommers 1998 zeichnete sich ab, daß infolge der Dürre in Rußland eine schlechte Ernte zu erwarten ist.
Und sofort begann die Presse von einer drohenden Hungersnot zu schreiben.

Anfang Herbst wurde dann die Information unter Hinweis auf „Angaben ausländischer Aufklärungsdienste" verbreitet, daß Rußland bereits kurz vor einer Hungersnot stehe.

Die russischen Nachrichtenagenturen griffen diese Information auf und verbreiteten sie landesweit. Zahlreiche „Experten" verwiesen darauf, daß die Hungersnot nach Neujahr oder sogar noch vor Neujahr ausbrechen werde. Ohne ausländische Hilfe sei Rußland nicht überlebensfähig. Und das Land lebte in Erwartung der Hungersnot: Lebensmittel verschwanden aus den Regalen, die Preise schnellten empor.

Mit der „Hungerpsychose" war Schluß, nachdem die russische Regierung Mitte November den Abschluß über Lebensmittellieferungen und einen Lebenmittelkredit getätigt hatte. Rußland war gerettet! Erst da wurden die vernünftigen Stimmen von Fachleuten und sogar von Landwirtschaftsminister Viktor Semjonow vernommen, daß Rußland überhaupt keine Rettung bräuche. Im Gegenteil: Trotz der Mißernte gibt es eigene Produkte im Überfluß.

Laut den Angaben des Staatlichen Komitees für Statistiken wurden 1998 51,5 Millionen Tonnen Getreide eingebracht. Hinzu kommen noch zwanzig Millionen Tonnen aus dem sogenannten Übergangsbestand der 97er Ernte.

Insgesamt wird der Getreidebedarf Rußlands also problemlos gedeckt. Zudem liegen laut den Zahlen des Landwirtschaftsministeriums die amtlichen Angaben der Getreideernte in den letzten Jahren fünfzehn Prozent unter den realen Werten, da viele Agrarproduzenten ihre Erträge aus steuerlichen Gründen niedriger ansetzen. Somit belaufen sich die realen Zahlen auf 65 bis 68 Millionen Tonnen Getreide.

Bei Auktionen werden allerdings nur zwanzig Prozent des angebotenen Getreide verkauft. Das ist jedoch schon ein anderes Problem, da es sich um die zahlungskräftige Nachfrage handelt. Hat man jedoch kein Geld, kauft man auch kein ausländisches Getreide. Und so sieht es auch mit Geflügel, Fleisch und Milch aus, deren Produktion in den letzten Jahren gestiegen ist.

Ganz zu schweigen davon, daß sich die Einwohner Rußlands nach offiziellen Angaben mit Kartoffeln (neunzig Prozent), Gemüse (76 Prozent), Fleisch (56 Prozent) und Milch (47 Prozent) aus ihren Kleingärten versorgen. Um welche Hungersnot geht es also?

Die Finanzkrise, die steigenden Preise für Importprodukte und die daraus resultierende Reduzierung der Einfuhr begünstigen eigentlich die Entwicklung der einheimischen Landwirtschaft. Es ist sozusagen die letzte Chance, die das Schicksal der russischen Landwirtschaft bescherte, um wieder hoch zu kommen, wenn...

Wenn die „humanitäre Hilfe" des Westens nicht stören würde! Laut Jewgenia Serowa, Leiterin der Abteilung für Landwirtschaft im Institut für Wirtschaftsprobleme der Transformationszeit, bestand diese Chance erstmals in den Jahren 1992 bis 1994.Die russische Regierung vergab sie aber.

Sie setzte die eigene Agrarindustrie auf die „humanitäre Spritze" und trieb sie in eine schwere Depression. Die im Westen aufgenommenen Kredite für Agrarprodukte steigerten den Lebensstandard der kanadischen Farmer, förderten den Verfall der russischen Landwirtschaft und trieben die ohnehin unvertretbar hohe Steuerlast in Rußland in die Höhe.

Nun hat Rußland wieder eine Chance: Die russischen Arbeitskräfte haben sich verbilligt, ausländische Lebensmittel sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich, und der Zyklus einiger Viehhaltungsbranchen - beispielsweise der Geflügelzucht - von den Investitionen bis zum Gewinn ist kurz.

Zudem haben die russischen Agrarproduzenten Erfahrungen gesammelt und das notwendige Vertriebsnetz aufgebaut. Angesichts der undurchdachten Maßnahmen der Regierung kann dies jedoch auch die letzte Chance sein.

Danach wird Rußland für immer auf westliche Lebensmittellieferungen angewiesen sein, und die neuen Schulden über Dutzende von Jahren abbezahlen müssen. So äußern sich Experten, die ihre eigenen agroindustriellen Belange vertreten. Diejenigen in der Regierung, die über die Aufnahme von Auslandsdarlehen und humanitäre Hilfe entscheiden, weigern sich aber hartnäckig, auf diese Fachleute zu hören.

Sitzen denn in der Regierung Männer, die keinen Wirtschaftsaufschwung Rußlands wollen? An dieser Frage arbeitet sich die Bevölkerung Rußlands seit zehn Jahren ab und findet keine Antwort. In letzter Zeit wird allerdings zunehmend der Gedanke geäußert, daß in der Regierung tatsächlich Feinde Rußlands sitzen.

Was die Belange der Landwirtschaft anbetrifft, hat man den Eindruck, daß bei den staatlichen Beschlüssen die Interessen der russischen Agrarproduzenten nicht vertreten sind, und dies, obwohl die Agrarpartei eine starke Fraktion im Parlament stellt und auch in der Regierung vertreten ist.

Die Agrarpartei selbst und ihre Vertreter in der Regierung, darunter auch der stellvertretende Ministerpräsident Gennadi Kulik, vertreten aber weniger die Interessen der Bauernschaft als vielmehr die Belange der Mineraldüngerproduzenten, einiger Handelsorganisationen im Landwirtschaftssystem, des weiteren die einiger Ölgesellschaften sowie der Einkaufsgesellschaften und Getreidegroßverbraucher.Deren Interessen können mit denen der russischen Agrarproduzenten übereinstimmen oder auch nicht. Bezüglich der Auslandshilfe stimmen sie nicht überein.

Welche Bedeutung haben eigentlich die Auslandskredite und die Auslandshilfe? Es sind die Möglichkeiten, sie zu verteilen und die Rechte an den Verteilungsrechten zu vergeben. Es sind Profite und irrsinnige Bestechungsgelder. Die Geschichte des „neuen" Rußlands zeigt, daß im Umfeld der Landwirtschaftskredite und der humanitären Hilfe phantastische Diebstähle stattfinden, und sich die Menschen bereichern, die die Kredite und Hilfen verteilen.

Wirtschaftsexperten sind der Ansicht, daß die größten Vermögen in Rußland auf Erdöl und auf der humanitären Hilfe basieren. Denn man bemüht sich ja eben um neuen Reichtum und nicht um die Abwendung einer Hungersnot. Die Kredite und Hilfen bleiben zu einem Großteil im Westen, während der Rest in Rußland von allerhand „Lobbyisten" gestohlen wird, auf die eigentlich das Strafgesetzbuch anzuwenden wäre.

Gerade aus diesem Grund wird in Rußland seit einigen Monaten die Spekulation über die drohende Hungersnot angeheizt. Der Ernteertrag und die Lebensmittelproduktionswerte wurden auf der höchsten Ebene und auch von Gennadi Kulik vorsätzlich unterschätzt.

Die russischen Massenmedien handelten übrigens unisono mit einigen westlichen Medien, die - vielleicht gegen Belohnung? - von den eigenen Agrarlobbies beeinflußt wurden, die an Lebensmittellieferungen nach Rußland interessiert sind. Denn Amerika und Westeuropa stecken in einer andauernden Agrarüberproduktionskrise. Ihre Regierungen und die russische Agrarlobby helfen durch Kredite, die überschüssigen Lebensmittel auf dem russischen Markt gewinnbringend abzusetzen.

Es gibt noch einen gewichtigen Grund, warum Moskau ausländische Lebensmittellieferungen genehmigt, die den Ruin der russischen Bauernschaft bedeuten. Es handelt sich um die Pflichten des Staates gegenüber den sogenannten „Sonderverbrauchern", also den Streitkräften, Gefängnissen, Kinderheimen und anderen staatlichen Strukturen.

Der Staat muß sie mit Lebensmitteln versorgen. Lehnt Moskau die ausländischen Lieferungen ab, muß es selbst für die Versorgung sorgen. Angesichts der Krise ist dies wenig realistisch, selbst wenn man bedenkt, daß die russischen Getreidepreise bei der Hälfte der Weltmarktpreise oder sogar darunter liegen.

Die westlichen kreditgestützten Lebensmittellieferungen gehen aber in der Regel mit einem Teil „humanitärer", das heißt unentgeltlicher Lebensmittellieferungen einher, die ausreichen, um die Sonderverbraucher fast oder sogar ganz zu versorgen. Der verbleibende Rest wird dann zu Preisen, die über den russischen liegen, auf Kredit gekauft. Die russischen Soldaten und Straftäter werden also auf russische Kosten mit amerikanischem Getreide versorgt, da die eigene Regierung nicht imstande ist, sie zu ernähren.

Von politischer Druckausübung seitens der russischen Regierung kann man schon gar nicht sprechen. Ein Beispiel hierfür ist die allseits bekannte Geschichte mit den „Bush-Vierteln" (amerikanische Hühnerviertel), die sich vor etwa einem Jahr abgespielt hat. Die russischen Produzenten konnten Tschernomyrdin schließlich „überreden", die Zölle zu erhöhen und die Einfuhrbestimmungen für diese Waren zu verschärfen. Das US-Au-ßenministerium reagierte unmittelbar mit der Androhung „ernsthafter politischer und wirtschaftlicher Folgen". In seinem Schreiben an Tschernomyrdin rechnete Al Gore die Verluste vor, die der amerikanischen Seite durch diese „Aktion" zugefügt würden, und forderte eine Rücknahme der Entscheidung.

Tschernomyrdin erklärte dann umgehend, er sei mißverstanden worden. Auch die heutige Regierung entschied nach einer Beratung zugunsten der amerikanischen und kanadischen Farmer. Gemäß den Übereinkünften werden im vierten Quartal 1998 und im ersten Halbjahr 1999 1,5 Millionen Tonnen amerikanischen Weizens als Spende eingeführt.

Die Hilfe wird aber nicht nur als humanitäre Hilfe der US-Regierung gewährt - schließlich sind die USA keine Wohlfahrtsstiftung -, sondern auch im Rahmen eines zweckgebundenen Kredits von einer Milliarde Dollar. Mit dem Kredit sollen Fleisch-, Reis- und vor allem Getreidelieferungen nach Rußland finanziert werden. Die Bestellung der amerikanischen Lebensmittel verbessert natürlich auch die Chance Rußlands, Hilfe vom IWF zu erhalten. Rußland wird aber ein Kredit aufgezwungen, den es nicht braucht. Daneben gibt es noch eine recht zynische Bedingung der amerikanischen Wohltäter: Rußland darf diese Produkte nicht exportieren.

Rußland muß also weniger vor der Hungersnot, als vielmehr vor unheilvoller ausländischer Hilfe gerettet werden. Das wäre eine richtige „humanitäre" Hilfe.



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