Gesellschaft

Sind alle Mittel recht, das gelobte Land zu erreichen? [ Abstract ]
Wie der Mobilfunk die russischen Massen erfaßt [ Volltext ]

aus WOSTOK SPEZIAL: Die Westliche Ukraine
 
Wir im Westen - Wir im Osten [ Volltext ]
Wechselvolle Geschichte - die andere Ukraine [ Abstract ]
Die konfessionelle Spaltung in der Ukraine und ihre Wurzeln [ Abstract ]
Locus perennis - das geographische Zentrum Europas [ Abstract ]
Galizien - ein Schmelztiegel vieler Kulturen? [ Abstract ]
Der Glaube und das kirchliche Leben in der Ukraine [ Abstract ]
Die Huzulen - ein Volk zwischen gestern und heute [ Abstract ]

Sind alle Mittel recht, das gelobte Land zu erreichen?
von
Irada Agajewa, Journalistin, Baku


Die wirtschaftliche Not treibt die Menschen dazu, die Heimat zu verlassen
 
Die Migrationszahlen aus Aserbaidschan sind weiter hoch. Viele Migranten beantragen in westlichen Ländern politisches Asyl, auch wenn sie vor allem die wirtschaftliche Not aus Aserbaidschan vertreibt. Viele nehmen die Dienstleistungen dubioser Unternehmen in Anspruch, um ihre Heimat verlassen zu können, und müssen feststellen, daß sie betrogen worden sind.
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Wie der Mobilfunk die russischen Massen erfaßt

von
Alexej Koslatschkow, Journalist, Moskau


Läuft man durch die Straßen Moskaus oder St. Petersburgs und setzt man das dortige Leben als Normalität für das ganze weite Rußland an, muß man den Eindruck gewinnen, daß jeder zweite Russe über ein Handy verfügt. Tatsächlich sind bis heute nur zehn Prozent der Bevölkerung, nämlich etwas mehr als vierzehn Millionen Menschen, Mobilfunkkunden. Die Verteilung der Handykunden ist ungleichmäßig und konzentriert sich auf die großen Städte. Drei große Anbieter haben den Markt mehr oder weniger unter sich aufgeteilt: MTS, BeeLine und Megafon. Zudem gibt es eine Reihe regionaler Anbieter, die die Netze der großen Drei benutzen.

Die Mobilfunkbranche ist einer der am schnellsten wachsenden Zweige der russischen Volkswirtschaft. Dies gilt sowohl für das Investitionsvolumen wie auch für die Gewinne der Anbieter. Nach Angaben des Ministeriums für Kommunikation hat sich die Zahl der Mobilfunkkunden in Rußland allein im Laufe des Jahres 2001 mehr als verdoppelt und stieg von 3,5 Millionen auf 7,8 Millionen.

Einmaleins der russischen Handynutzerpsychologie

Noch vor drei bis vier Jahren was das Mobiltelefon exklusives Ausstattungsstück einflußreicher Geschäftsleute
 
Schnell haben sich die Einstellung und die damit verbundenen Gewohnheiten der Verbraucher in bezug auf den Mobilfunk verändert. Die entsprechenden Verhaltensmuster wechseln so rasch, daß sie sich nur schwer in Etappen fassen lassen. Im großen und ganzen wird sich der russische Markt bezogen auf den Entwicklungsstand des Mobilfunknetzes und die Verbreitung von Mobiltelefonen wohl auf dem Stand der Märkte der westlichen Welt von vor drei bis vier Jahren befinden. Dies gilt weniger für die nackten Zahlen als vielmehr für den Stellenwert des Mobiltelefons im Bewußtsein der russischen Bevölkerung insgesamt. Die absoluten Zahlen der russischen Statistiken lassen sich in der Regel nur schwer mit den entsprechenden europäischen Zahlen vergleichen, zu viele Faktoren verzerren das Bild - darunter das Fehlen einer vergleichbaren Infrastruktur, bedeutend größere Entfernungen, gravierende Unterschiede zwischen Hauptstadt und Provinz sowie ein gänzlich anderes Ausgangsniveau bei der Einführung einer neuen Entwicklung. Und so betrifft die folgende Beschreibung der Verhaltensmuster der russischen Mobilfunkkunden im wesentlichen auch nur die Bewohner der großen Städte. In den kleinen Städten, geschweige denn auf dem Dorf sind viele von der Möglichkeit, sich ein Mobiltelefon zulegen zu können, weit entfernt. Nicht wenige führen immer noch ihren langjährigen Kampf um einen Festnetzanschluß.

Vor drei bis vier Jahren war in Rußland das Mobiltelefon exklusives Ausstattungsstück einflußreicher Geschäftsleute und der Spitze der mittelständischen Unternehmer. Beinahe noch auffälliger trugen deren Frauen und Geliebte, nebst teurem Schmuck und Luxuslimousinen, dieses Accessoire zur Schau. Die "neuen Russen" waren, als das Mobilfunknetz in Rußland aufgebaut wurde, die erste große Kundengruppe. Jedoch bestand diese nur zu einem Drittel (oder etwas mehr) aus den genannten mehr oder weniger gesetzestreuen Repräsentanten des großen und mittelständischen Unternehmertums. Was den restlichen - größeren - Teil betraf, verschmolz der Begriff "neuer Russe" unweigerlich mit dem des Gangsters. Zum Schluß waren die Grenzen so verwischt, daß man sie kaum noch auseinanderhalten konnte, wovon die vielen Witze über die "neuen Russen" zeugen.

Die Angehörigen der russischen Unterwelt nutzten von Anfang an in großer Zahl und großem Stil das Mobilfunknetz (von einem schnellen Anruf konnte oft genug das Leben abhängen!), so daß das Handy beinahe zu einer Art Erkennungsmerkmal, ja, zu einer Visitenkarte dieser Gruppe wurde - ebenso wie die kurzgeschorenen Haare, der massive Edelsteinring am Finger, die fingerdicke Goldkette am Hals und die Jogginghose mit Seitenstreifen.

Natürlich besaßen damals auch die führenden Politiker föderalen oder hauptstädtischen Kalibers Mobiltelefone. Wurde jedoch ein Regionalpolitiker, ein Gebietsdumaabgeordneter oder gar ein Bezirks- oder Kommunalpolitiker mit einem Handy gesehen, machte er sich dadurch in den Augen der Bevölkerung höchst verdächtig ("Woher hat denn der das Geld dafür?"), es sei denn, er war gleichzeitig auch ein Unternehmer. Auch Staatsbedienstete föderaler Behörden, sogar hochrangige, scheuten sich davor, in der Öffentlichkeit ein Mobiltelefon zu benutzen. Da das offizielle Gehalt es kaum erlaubte, sich den Luxus eines solchen zu leisten, wurde das Handy leicht zum unübersehbaren Hinweis auf die Korruptheit seines Besitzers.

Eine weitere Kategorie der ersten Mobilfunknutzer stellten die Angehörigen des russischen Showbusineß dar, allerlei Stars und die Mitarbeiter der Fernsehanstalten, durch die in Rußland traditionell gewaltige Summen Schwarzgeld geschleust werden.

Bisher verfügen lediglich zehn Prozent der russischen Bevölkerung über ein Mobiltelefon
 
Kurzum, in einem Spiel mit freien Assoziationen hätten die Russen damals wohl das Mobiltelefon gemäß seinem Stellenwert mit folgenden Begriffen gepaart: Handy und Mercedes (Volvo, BMW, aber nicht Schiguli oder Wolga), Handy und freistehendes Einfamilienhaus (und nicht Mietwohnung), Handy und gestylte Schönheit mit Nerz und Cabrio (aber nicht abgekämpfte Studentin im öffentlichen Nahverkehr), Handy und Bodyguards (damit es nicht gestohlen wird), zudem Handy und die eigene Yacht und Designerkleidung und VIP-Lounge und Fünf-Sterne-Hotel.

Die Qualität des damaligen Mobilfunknetzes ließ allerdings zu wünschen übrig, was folgendes Beispiel verdeutlichen mag. Ein Freund von mir arbeitete bei einem ausländischen Unternehmen und hatte ein Firmenhandy zur Verfügung gestellt bekommen. Er wohnte - wie auch ich - rund vierzig Kilometer von Moskau entfernt. Kaum daß er seine Wohnung betrat, stürzte er als erstes zum Fenster und legte das Handy auf die Fensterbank, die Moskau am nächsten lag, damit er, wie er sich ausdrückte, nicht "aus dem Netz fällt". Erhielt er einen Anruf (da niemand sonst in seinem Bekanntenkreis ein Handy hatte, konnten die Anrufe eigentlich nur aus der Firma sein), rannte er zum Telefonieren sofort auf den Balkon hinaus, um etwas verstehen zu können.

Die "neuen Russen" lassen ihre Handys zu Hause

Wie sieht es dagegen heute aus? Ende 2002 besaßen über die Hälfte der Einwohner in den russischen Großstädten (in erster Linie Moskau und seine Vorstädte, Petersburg, Samara, Nischni Nowgorod) ein Mobiltelefon. Zum Vergleich: in der Bundesrepublik hatten im Jahre 2000 bereits sechzig Prozent der gesamten Bevölkerung ein Mobiltelefon! Rußland befindet sich also derzeit in bezug auf die quantitative Verbreitung von Handys in den Großstädten, in etwa auf dem Stand von Deutschland von vor drei Jahren, doch eben mit dem Unterschied, daß die Verteilung gänzlich anders gelagert ist. In der russischen Statistik nehmen Moskau und seine Vorstädte den ersten Platz ein, da allein hier etwa sechs Millionen Mobilfunkkunden registriert sind. Das sind etwa zwei Fünftel der gesamtrussischen Anmeldungen, die sich auf knapp fünfzehn Millionen belaufen. Insgesamt verfügen also lediglich zehn Prozent der russischen Bevölkerung über ein Mobiltelefon (Angaben der Agentur "Sotowik" für Anfang Oktober 2002).

Für die Großstädte ergibt sich das folgende Bild: nur die ärmsten Bevölkerungsschichten haben hier heute kein Mobiltelefon, auch die ärmeren Studierenden und die Rentner, die mit einem Handy nicht zurechtkämen, zählen nicht zur Gruppe der Handybesitzer. Alle in irgendeiner Form aktiven und berufstätigen Menschen besitzen ein Handy, zudem die meisten Studierenden und sogar etwa die Hälfte der Schüler, angefangen von den ersten Klassen. Ein Studierender mit Mobiltelefon ist hier die Norm, ein Schüler einer allgemeinbildenden Schule mit Mobiltelefon fast schon die Norm. Der öffentliche Nahverkehr summt heute von Handygesprächen. Klingelte vor drei Jahren in der Bahn oder im Bus ein Handy, war dies ein außergewöhnliches Ereignis. Sofort trat Grabesstille ein, alle unterbrachen ihre Gespräche, ihre Gedanken, ihre Lektüre und ihre Annäherungsversuche an das andere Geschlecht und lauschten gebannt auf jedes Wort des Sprechenden, den - aufgrund seiner eindeutigen Zugehörigkeit zu einer privilegierten Klasse - lediglich eine Naturkatastrophe oder eine ungewöhnliche Verquickung unglücklicher Umstände in das öffentliche Verkehrsmittel verschlagen haben konnte.

Heute wundert es in den Großstädten niemanden mehr, wenn Zehnjährige auf der Straße telefonieren, die Oma, die das Kind zur Schule bringt, Instruktionen über Handy erhält und der gestreßte Familienvater seine Frau aus dem Supermarkt anruft um zu klären, welche Milch er nun genau kaufen soll. Das ruiniert die Familie nicht gleich, auch wenn klar ist, daß selbst der kürzeste Anruf mit dem Handy deutlich teurer kommt als die teuerste Packung Milch.

Als Reaktion auf die sich verändernde Konjunktur bot im letzten Sommer einer der führenden Mobilfunkanbieter einen besonderen "Sommertarif" für seine Kunden an. Dieser zielte besonders auf diejenigen ab, die den Sommer auf der Datscha verbringen und regelmäßig bestimmte Nummern von dort anrufen. Dabei handelt es sich naturgemäß vor allem um Rentner. Diese Bevölkerungsgruppe wird also systematisch als Mobilfunkkunden geworben. Die Einführung verbilligter Tarife hat dazu geführt, daß man nun öfter "ganz normale" Menschen in "ganz normalen" Städten sehen kann, die mit dem Handy am Ohr relativ gelassen wirkende Telefongespräche führen. Wohingegen die Gespräche früher von kaum zu überbietender Hektik geprägt waren. Man warf sich in größter Eile kaum die allernötigsten Worte zu, um Geld zu sparen.

Ein derartiger Sprung in der Entwicklung ist aber erst im Laufe des Jahres 2002 eingetreten. Umfragen belegen, daß etwa die Hälfte der Mobilfunkkunden seit weniger als einem Jahr ein Handy besitzt.

Ist das Mobiltelefon wirklich so unentbehrlich geworden und hat sich im Leben seiner Besitzer dadurch etwas Wesentliches verändert? Eine beinahe philosophische Frage. Mit Sicherheit hat es nunmehr einen festen Platz unter den Gebrauchsgegenständen und Accessoires des modernen Menschen wie der Kugelschreiber in der Brusttasche (auch wenn man ihn gerade einmal in sechs Monaten braucht), Designersonnenbrillen und teure Armbanduhren (auch wenn man gar keine Termine einzuhalten hat). Am besten läßt sich das Mobiltelefon vielleicht mit einer Krawatte vergleichen - man braucht sie eigentlich nicht, aber sie ist zuweilen ein "Muß" und gehört eben dazu.

Als eine Art Gegenreaktion auf die explosionsartige Ausbreitung des Mobiltelefons und den damit verbundenen "Prestigeverlust" des Objekts läßt sich in der letzten Zeit in Moskau bei bestimmten Schichten ein eigentümliches Kokettieren mit einer angeblichen Abneigung gegen Handys beobachten. Dabei handelt es sich vorwiegend um diejenigen, die einst als erste darüber verfügten. Diese neue Art des Snobismus äußert sich darin, daß es unter den Reichen gegenwärtig als besonders schick gilt, grundsätzlich kein Mobiltelefon zu besitzen oder es aber ständig demonstrativ zu Hause oder im Büro liegenzulassen oder schlicht zu vergessen, es einzuschalten, oder es nicht in den Urlaub mitzunehmen. Sind doch die Mobiltelefone in ihren Augen mittlerweile ein allzu plebejisches Vergnügen geworden. Denn wer wirklich unabhängig und vermögend ist, braucht nicht ständig erreichbar zu sein - so die Logik. Hat man vielleicht den Präsidenten schon mit einem Handy am Gürtel herumlaufen sehen? Dafür hat er schließlich seine Sekretäre.

Auch die Werbung spiegelt deutlich die sich wandelnden Zielgruppen der Mobilfunkbranche wider. Werbung formt ja schließlich nicht nur Verbrauchergewohnheiten, sondern verarbeitet sie auch. Vor drei bis vier Jahren setzte die Werbung darauf, Mobiltelefone als exklusives Prestigeobjekt für die Reichen zu verkaufen. Da wanden sich in den Werbeclips halbnackte Schönheiten, die Handys an den unmöglichsten Stellen plaziert, und hauchten Sätze in der Art von: "Das Teuerste nur für die Teuersten!" Da stiegen russische Yuppies mit dem Handy am Ohr aus ausländischen Automodellen und priesen die Zuverlässigkeit und Qualität des Anbieters mit Sätzen wie: "Mit MTS erreicht man Dich auch im Grab!"

Heute finden sich ganz andere Werbebilder. Da flimmern dreckige Gesichter von Bauarbeitern mit Handy am Ohr über die Bildschirme, die auf ihre Schaufel gestützt ihre Rauchpause für ein Gespräch nutzen. Zwei kugelrunde, eher einfältig wirkende Omis erzählen sich per Handy das Neueste aus dem Leben ihrer Enkel, der Großvater ruft von der Datscha aus die Enkelin zu Hause an. Wichtig ist neben der "Demokratisierung" der Bilder die Wende zum einheimischen, wiedererkennbaren, vertrauten Element. Die international austauschbaren Mannequinfiguren und die eher gesichts- und nationalitätenlosen Männer- und Frauentypen wurden ersetzt durch einheimische Figuren und Gesichter mit vertrauten Zügen. Die Kernbotschaft der derzeitigen Mobilfunkreklame läßt sich vielleicht so formulieren: "Gott, wenn sogar schon diese Flaschen Handys haben, wieso habe ich bloß noch keins?"

Das Handy und die Aufklärung

Worüber haben sich eigentlich Jugendliche vor zwanzig Jahren in der Sowjetzeit unterhalten, besonders wenn es darum ging, einen Angehörigen des anderen Geschlechts kennenzulernen? Da wurden Gedichte russischer und sowjetischer Dichter rezitiert, wer es konnte, sang Lieder zur Gitarre (das kam bei den Mädchen besonders gut an), in denen es um die typisch sowjetische Romantik ging, also um Geologen und Bergsteiger - gerade diese Berufe galten als besonders romantisch. Die übrige Massenkultur in der Sowjetunion - das Kino, die Musik - war sogar noch langweiliger als die meisten dieser Gedichte und Lieder. Und Alkohol wurde nach 19.00 Uhr ja auch keiner mehr verkauft. Was unternahm also die sowjetische Jugend? Es fällt schwer, sich in Erinnerung zu rufen, worüber die jungen Menschen sprachen, denen das Talent zum Rezitieren oder Gitarrespielen fehlte und die über keine ausgeprägten "geistigen" Interessen verfügten. Wahrscheinlich schwiegen sie dumpf vor sich hin und knabberten Sonnenblumenkerne (Kaugummi gab es ja nicht) oder rauchten. Lassen Sie uns deshalb mit einem Augenzwinkern die Verbreitung von Mobiltelefonen unter den heutigen Jugendlichen sozusagen als einen Schritt vorwärts auf dem Weg der "Aufklärung" der Erdbevölkerung insgesamt und insbesondere der russischen Jugend betrachten. Und damit ist nicht in erster Linie die Möglichkeit gemeint, sich mit Hilfe des Mobiltelefons jederzeit in Verbindung setzen zu können - was die Hauptfunktion dieses Geräts ist, wenn sie auch zuweilen hinter der Vielzahl der anderen in den Hintergrund gedrängt ist - und auch nicht die für einen Jugendlichen lebenswichtige Möglichkeit, jederzeit den Freund/die Freundin erreichen oder sich "spontan" verabreden zu können. Die "kulturhistorische" Bedeutung ist tiefgründiger. Schließlich sind die Preise für Mobilfunkgespräche in Rußland immer noch derart hoch, daß es sich ein Jugendlicher nicht erlauben kann, endlose Gespräche mittels Handy zu führen, doch kann man mit den Altersgenossen nahezu endlos über Handys reden.

Gleich welchen Tarif man wählt und wie sparsam man auch damit umgeht, wird man kaum unter umgerechnet etwa zwanzig Euro pro Monat bleiben. Für einen Jugendlichen in Rußland eine durchaus ernstzunehmende Summe. Um die Jugend jedoch dennoch soweit wie möglich zu erfassen, haben die Anbieter speziell für sie die günstigsten Tarife entwickelt. Diese sehen vor, daß man, wenn man mindestens drei bis vier Gespräche im Monat führt, eine gewisse Anzahl von Anrufen aus demselben Netz kostenlos annehmen kann (in den meisten russischen Tarifplänen sind nämlich auch die eingehenden Anrufe für den Handybesitzer mit Kosten verbunden). Mit ein wenig Geschick kann es dem Jugendlichen so gelingen, mit zehn Euro pro Monat auszukommen.

Die relativ hohen Kosten für den Betrieb des Handys sind also durchaus kein Grund für Jugendliche, auf ein solches zu verzichten, es lässig am Gürtel zu tragen, besser noch an einem dünnen Riemchen direkt am Handgelenk, es im größten Gewühl und zur unpassendsten Zeit im Bus hervorzuziehen, um darauf herumzuspielen oder eine SMS zu verschicken.

Gleich welchen Tarif man wählt und wie sparsam man auch damit umgeht, wird man kaum unter umgerechnet etwa zwanzig Euro pro Monat bleiben
 
Einzigartig ist das Handy in seiner Rolle als Mittel der "intellektuellen" Entwicklung der Jugendlichen und als fundamentales Gesprächsthema. In vier von fünf Gesprächen unter Jugendlichen geht es um Computer oder Handys, wobei das Handy zum wirklichen Gemeinplatz in der Alltagskommunikation geworden ist (nur wohlhabende und intensiv ihre Karriere planende Jugendliche können sich einen Hochleistungscomputer leisten). So werden das Handy und seine Accessoires zum wichtigsten Gesprächsthema und zum sichersten Anknüpfungspunkt, wenn man nicht weiß, wie man ein Gespräch beginnen soll. Selbst computerunbegabte Kids lernen es schnell, mit dem Handy umzugehen. Und wie viele Gesprächsthemen gibt es rund um das Handy! Da braucht man in der Tat nicht mehr in verstimmte Gitarrensaiten zu greifen, um beim Gegenüber Eindruck zu machen. Allein mit der Diskussion über die unterschiedlichen Tarife - obwohl es derer in Rußland ja vergleichsweise wenige gibt - und die besten Spartricks lassen sich Abende füllen, ganz zu schweigen von den Zusatzfunktionen der unterschiedlichen Handymodelle, wie Sprachmodul, WAP und Wecker, was hier nicht vertieft werden soll, da die Handymodelle die gleichen sind wie in Deutschland. All diese Themen sind für viele bereits spannender als so mancher Blockbuster im Kino, man mag sogar schon von einem Vorbeugeeffekt im Kampf gegen Alkohol und Drogen sprechen, denn wer braucht noch Wodka, wenn er sich voll und ganz dem Rausch der Droge "Handy" hingeben kann? Diese Gedanken drängen sich auf, wenn man an jeder Ecke die 15- bis 18jährigen in Zweiergruppen sitzen sieht, die weltvergessen und hingebungsvoll über ein Handy gebeugt stundenlang im Wechsel die Tastatur bedienen. Wäre das Handy nicht, säßen sie wohl zu Tode gelangweilt herum, ohne Beschäftigung und ohne Gesprächsthema. Würde sie nicht das Handy voll und ganz beschäftigen, würden sich dieselben Jugendlichen vielleicht ebenso weltvergessen und hingebungsvoll gegenseitig eine Heroinspritze setzen.

Ein anderes Handythema sind die Klingeltöne und -melodien, die in Rußland von fliegenden Händlern neben dem üblichen Krimskrams in den Metro- und Nahverkehrszügen verkauft werden und die zu echten Verkaufshits geworden sind. Jeder zweite Händler preist sie in den Waggons an. Über den hohen kulturellen Aufklärungswert der Rufmelodien kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Der folgende Witz über ein Gespräch unter Jugendlichen möge als Beispiel dienen. "Mozart? Bach? Aber klar, kenn ich die! Die sind echt cool, schreiben geile Sounds fürs Handy."

Der Mobilfunkmarkt in Zahlen und der Wettkampf der Anbieter

Neunzig Prozent des Mobilfunks entsprechen dem GSM-Standard. Den Markt haben drei strategische Anbieter unter sich aufgeteilt: MTS (Mobile Tele Systeme), BeeLine und Megafon. Die 14,73 Millionen Mobilfunkkunden in Rußland verteilen sich wie folgt: MTS hat 5,428 Millionen Kunden, BeeLine bringt es auf vier Millionen und Megafon auf 2,229 Millionen. Unter den regionalen Anbietern führt SMARTS mit 434000 Kunden. Die drei großen Anbieter verfügen über eine eigene, ständig in Erweiterung begriffene Infrastruktur und investieren viel Geld in deren Ausbau in den Regionen. Die regionalen Anbieter nutzen im wesentlichen die Netze der drei großen Anbieter.

Im Jahr 2002 spielte sich der Konkurrenzkampf um neue Kunden in erster Linie zwischen MTS und BeeLine ab. Die Frage und die anschließende Diskussion, ob es besser sei, zu MTS oder zu BeeLine zu gehen, ist in den letzten zwei, drei Jahren für die Russen zu einer fast existentiellen Frage geworden, vergleichbar dem Hamletschen "Sein oder Nichtsein?" Wie jede existentielle Frage ist sie nach wie vor ungelöst, und es ist offen, ob sie je gelöst wird. Vielleicht wird einst der Dritte - Megafon - den Sieg davontragen. Im allgemeinen heißt es, bei MTS seien das Netz und die Verbindungen besser, das Netz ausgebauter (funktioniert auch in der Metro), außerdem gebe es mehr Dienstleistungen, aber dafür sei es teurer. Der Vorteil von BeeLine wird darin gesehen, daß eingehende Anrufe von allen Mobiltelefonen, auch anderer Anbieter, kostenlos sind (Anrufe aus dem Festnetz müssen hier, wie bei allen anderen Anbietern, mitbezahlt werden), während bei MTS nur die eingehenden Anrufe von Mobiltelefonen aus dem MTS-Netz kostenlos sind. BeeLine ist also in jedem Fall günstiger, das Netz aber etwas schwächer ausgebaut.

Hauptsächlich spielt sich der Kampf derzeit zwischen diesen beiden Hauptanbietern und um die sogenannten geringvermögenden Kunden ab, die nur wenig telefonieren und dabei jede Kopeke im Auge behalten, die sie ein Gespräch kostet, und die deshalb nur eine bis maximal zehn Minuten am Tag über Handy telefonieren. Auf diese entfällt jedoch, wie Marktuntersuchungen zeigen, der größte Teil aller Gespräche. Ein Viertel aller Kunden telefoniert sogar nur ein bis zwei Minuten, 39 Prozent zwischen zwei und zehn Minuten pro Tag; beide Gruppen zusammen machen demnach 64 Prozent der Handykunden aus. Gerade diese Kunden sind andererseits besonders unbeständig, da sie sich durch kurzfristige Sondertarife des Konkurrenzanbieters leicht abwerben lassen. Marktanalysen bestätigen denn auch, daß die Kurztelefonierer in den letzten beiden Jahren ständig zwischen den beiden führenden Anbietern hin und her wechselten. Oft haben die Nutzer von beiden Anbietern eine SIM-Karte und legen jeweils diejenige ein, die just in dem Moment günstiger kommt. Der Kundenzuwachs, den die beiden marktführenden Anbieter zu verzeichnen haben, ist relativ gering, da sich beide auf Moskau konzentriert hatten, wo das Kundenpotential beinahe ausgeschöpft ist.

In den Großstädten werden die öffentlichen Telefone auf Zeit verdrängt werden, nicht aber auf dem Land
 
Anders sieht es bei Megafon aus, das vor kurzem einen unerwarteten Sprung nach vorne getan und derzeit den größten Kundenzuwachs zu verzeichnen hat. In den letzten Monaten betrug hier der Kundenzuwachs pro Monat fünfzehn Prozent und mehr, gegenüber weniger als der Hälfte bei MTS und BeeLine. Die Experten führen den derzeitigen Erfolg von Megafon zum einen darauf zurück, daß es sich um ein Petersburger Unternehmen handelt (ebenso wie die Holding Telekominvest, die Gründerin der Gesellschaft Sonic Duo, zu der Megafon gehört). Megafon wird zudem vom Minister für Telekommunikation Leonid Reiman (auch er ein Petersburger) protegiert, der ihr unbeschränkt Lizenzen für sämtliche Regionen ausstellt. Bekanntlich ist auch unser Präsident Petersburger, so daß man dieser Gesellschaft eine große Zukunft prophezeit. Ein weiterer Erfolgsfaktor von Megafon ist ohne Zweifel, daß sich das Unternehmen weniger auf die beiden Hauptstädte, sondern in erster Linie auf die Regionen konzentriert. Dies könnte sich in naher Zukunft als entscheidend für den Erfolg erweisen.

Wesentlich für die Beurteilung der Entwicklung des Mobilfunksektors ist die Berücksichtigung der Situation der allgemeinen Verbreitung von Festnetzleitungen im ganzen Land. Anfang des Jahres 2002 hatten 36 Prozent aller Siedlungen des Landes noch keinen Anschluß an Telefonleitungen. Dort, wo solche im Prinzip vorhanden sind, sind insgesamt 5,6 Millionen Haushalte immer noch auf der Warteliste für einen Hausanschluß, in manchen Regionen übrigens bereits seit dreißig Jahren. Nur ein Drittel der Telefonzentralen entspricht darüber hinaus international üblichen Standards.

Hinzu kommt, daß der Auf- und Ausbau von Mobilfunknetzen derzeit günstiger kommt als der Ausbau des Festnetzes. Die Kosten für den Ausbau eines Mobilfunknetzes belaufen sich umgerechnet auf eine einzelne Telefonnummer derzeit auf 200 bis 300 Euro, während die Einrichtung eines Festnetzanschlusses in den Regionen 500 Euro, in Moskau sogar 800 Euro kostet. Auch erzielt man mit den Handyanschlüssen einen größeren Gewinn, weil es in Rußland keine zeitgebundene Gesprächskostenabrechnung für Festnetzgespräche innerhalb des Stadtgebiets gibt, hier bezahlt man nur eine monatliche Grundgebühr. Es ist also keine Frage, woran die Investoren derzeit mehr Interesse zeigen. Dennoch erfassen die Mobilfunknetze bisher erst zehn Prozent der Bevölkerung gegenüber 21 Prozent durch Festnetzanschlüsse, und nach den jüngsten Schätzungen wird erst zum Jahr 2007 das Mobilfunknetz prozentual mit dem Festnetz gleichziehen (Ausnahmen sind Moskau und St. Petersburg, wo bereits heute ein Gleichstand erreicht ist). Dies liegt hauptsächlich daran, daß Gespräche über Mobiltelefone für den Durchschnittsrussen schlicht immer noch zu teuer sind. Mit dieser relativ vorhersagbaren Marktentwicklung hängt auch zusammen, daß in Rußland die Netzbetreiber bei Vertragsabschluß keine Handys kostenlos, zu symbolischen oder zu wesentlich günstigeren Preisen abgeben, wie dies beispielsweise in Deutschland der Fall ist. Die russischen Anbieter gehen davon aus, daß ihnen ein solches Angebot keinen spürbaren Kundenzuwachs bringt. Für sie gilt: wer wirklich ein Handy braucht, kauft sich auf jeden Fall eines, warum es also verschenken?

Wem gehören die Hauptnetzbetreiber? Alle sind als komplexe Aktiengesellschaften mit russischen und ausländischen Kapitalanteilen organisiert. Megafon gehört Sonic Duo, dessen Aktienmehrheit von Petersburger Investitionsgesellschaften gehalten wird. BeeLine gehört zu Wympelkom, deren Aktienmehrheit im Jahr 2001 von der Holding der "Alfa-Gruppe" aufgekauft wurde. Der Großteil der MTS-Aktien (allerdings nicht die Mehrheit) gehört der Deutschen Telekom, die, wie aus verschiedenen Quellen übereinstimmend hervorgeht, offenbar danach strebt, die Aktienmehrheit zu erwerben.
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Spezial: Westliche Ukraine
Galizien, Bukowina, Transkarpatien - Streifzüge durch Geschichte und Kultur

Das Spezial dieser Ausgabe ist einem Teil der westlichen Ukraine gewidmet. Wir versuchen, uns der Geschichte und Kultur dieser Region zu nähern, die eine äußerst wechselhafte Geschichte durchlebte und von vielen Staaten und Herrschern beherrscht und beeinflußt wurde.

Das Spezial ist natürlich auch als Sonderdruck für 7,00 EUR beziehbar. Erhältlich im gut sortierten Buchhandel oder direkt beim Verlag.

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Wir im Westen - Wir im Osten
von
Oles Pohranytschnyj, Journalist, Ukrainisch-polnische Mediengesellschaft, Lwiw


Ist die Ukraine tatsächlich ein in West und Ost gespaltenes Land, und ist die ukrainische Gesellschaft tatsächlich eine gespaltene, in der die Unterscheidung in die Bandery der Westukraine und die Moskaly der Ostukraine zementiert ist. Ist es eine unverträgliche Gesellschaft aus "Fremden" und "Unseren". Die Geschichte belegt, daß es immer Bestrebungen gab, die Ukrainer aus West und Ost in einem Staat zu vereinen.

Wir im Westen, ihr im Osten, wir im Osten, ihr im Westen, ihr im Osten, ihr im Westen, wir im Osten, wir im Westen. Wo sind wir, und wo seid ihr? Wo liegt die Grenze zwischen uns und euch? In diesem Kontext habe ich recht, meinen Beitrag nicht am West-Ost-Paradigma auszurichten. Dieser Aspekt des Problems ist nicht besonders wichtig. Das Interessanteste in unserem Kontext ist das Gespräch über das System "Wir - Sie" als ewiger Gegensatz "Unsereins - Fremder". Es ist sinnvoll, darüber zu sprechen, wenn wir die Ursache für den heutigen Zustand der ukrainischen Gesellschaft begreifen wollen. "Der andere beansprucht meinen Raum. Die Existenz des anderen ist ein unzulässiger Skandal", so hat Jean-Paul Sartre das System benannt. Die Gesellschaft ist frustriert, sie sieht kein Licht. Sie nörgelt und zeigt jedem die Zähne, der sich bewegt oder auch einfach nur atmet. Aber das Problem ist hier gar nicht im Anderssein zu orten (weil dieses nur eine Form der Selbstdarstellung ist), sondern darin, daß beide geographischen Pole in ein und demselben "Krähwinkel" liegen. Und in jenem Krähwinkel geht es am allerwenigsten um Selbstdarstellung.

Gegensätze und Unversöhnlichkeiten in der Ukraine - das ist ein dankbares Thema für die posttotalitäre Nomenklatura. Daraus kann man leicht einen Konflikt schüren
 
Ich bin ein wenig voreilig, wenn ich sage, daß Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die ukrainische Gesellschaft nicht weit von dem Zustand entfernt war, der als "bellum omnium contra omnes", als Krieg aller gegen alle, bezeichnet werden könnte. Ich nehme mir das Recht zu übertreiben, aber daß uns sowohl Leonid Krawtschuk als auch Leonid Kutschma in ihren "präsidialen Beschwörungen" eines Bürgerkrieges einzuschüchtern versuchten, zeugt davon, daß diese Bedrohung nicht einfach ausgedacht ist. Sonst hätten sich die Ukrainer bei den Wahlen nicht darauf bezogen. Warum dieses Szenario nicht zur Entfaltung kam und wir uns nicht in der Sackgasse verrannten, darüber kann man reden. Nicht ausgeschlossen, daß dabei die vorsowjetische Aufklärung und die sowjetische Volksbildung eine Rolle gespielt haben. Vielleicht waren es aber auch die lateinamerikanischen Soap operas, die Anfang der 90er Jahre über unsere Bildschirme flimmerten und die Menschen mit den Gedanken bekannt machten, daß auch die "Reichen weinen".

Aber kommen wir zur These über den Osten und den Westen der Ukraine zurück - zur These über ihre Unverträglichkeit, ihre fatale Fremdheit, ihre gegenseitige Unempfänglichkeit. Würden diese Thesen von Wissenschaftlern ausgearbeitet - von Linguisten, Anthropologen, Ethnopsychologen oder Politologen -, wäre dies das eine. Denn die Wissenschaftler würden eine solche These über die Unverträglichkeit nicht allein durch die Fremdheit begründen. Möglich, daß sie eine These über die gegenseitige Ersetzbarkeit aufstellen würden, wie es der galizische Publizist Mikola Schlemkewitsch getan hat. Offen gesagt, gab es die These über die Unterschiede der Volksstämme bei der Gründung der Staaten nicht. Und es lohnt sich kaum, darüber zu diskutieren, daß die Bewohner Galiziens und die des Donezker Gebiets Volksstämme eines Volkes sind. Behandeln die Historiker beispielsweise die Quelle der jüdischen Kultur in Galizien, so sprechen sie von einer "galizisch-jüdischen Subethnie, die ihre Besonderheiten, ihre Sitten und Bräuche, ihre Traditionen und ihre Sprache hatte".

Aber das ist Spekulation. Denn in unserem Falle wurde die These von Unverträglichkeit und Fremdheit von Polittechnologen ausgearbeitet, die daraus für sich selbst Gewinn schlagen wollen. Bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 boten sie der Wählerschaft die Wahl zwischen dem "proukrainischen" Krawtschuk und dem "prorussischen" Kutschma. Kutschma ging als Sieger aus der Wahl hervor, weil sein Team ihm das Image eines "Hausherrn" anheften konnte. Das heißt, in der Westukraine wurde mit klarer Mehrheit für den "ukrainischeren" Krawtschuk gestimmt; die Ostukraine hingegen entschied sich für Kutschma, weil dieser im Unterschied zu Krawtschuk kein Nationalist war. Bei der Präsidentschaftswahl 1999 wurde ebenfalls ein solches Schema inszeniert: Der "Anhänger der Staatsmacht" Kutschma stand gegen den Kommunisten und "Anti-Anhänger der Staatsmacht" Pjotr Simonenko. Um die Ukraine "zu retten", gab Galizien diesmal Kutschma seine Stimme. Die Gesellschaft befand sich also in einem Zustand, wo sie von zwei Übeln das geringere wählen mußte und sich auf keinen Fall bei der Wahl zwischen dem Schlimmen und dem Schlimmeren enthalten durfte. Da scheint es wichtig, den amerikanischen Soziologen Robert Merton nicht zu vergessen: "Wenn die Gesellschaft von Menschen geschaffen wird, die keine innere Ruhe kennen, werden sie nicht durch Liebe zu ihr, sondern durch Gewalttätigkeit verbunden." Heute ist die wichtigste Aufgabe des Regimes, die Gesellschaft im Zustand der inneren Unruhe und der ständigen Gegensätze zu halten - unabhängig davon, ob es die Gegensätze West und Ost, Kommunisten und Nationalisten oder gar Tag und Nacht sind. Mit Bedauern muß ich gestehen, daß dies dem Regime manchmal gelingt.

Gegensätze und Unversöhnlichkeiten in der Ukraine - das ist ein dankbares Thema für die posttotalitäre Nomenklatura. Daraus kann man leicht einen Konflikt schüren. Es können auch viele einzelne Konflikte sein, denn latente Konflikte innerhalb eines Staates - das bietet einen guten Fundus für die nach echter Macht strebenden Menschen.

Es ist nötig, an dieser Stelle auch kurz die Wahlen zu den Machtorganen zu behandeln, um zu sehen, wie gleich, wenn auch ausgehend von verschiedenen Positionen, die Wahlmotivation im Westen und im Osten ist (auf die Einzelheiten darüber, wer diese Motivation herausbildet, soll hier nicht eingegangen werden). Die Ostbewohner suchen nach Rettung vor auffallenden Gegnern - den nationalistisch gestimmten Galiziern -, und sie übertragen die Macht an ihre eigenen realen Gegner - den "unverbrüchlichen Block" der ehemaligen Nomenklatura (dabei ihrem bei weitem nicht besten Teil) und der deutlich ausgeprägten Kriminalität. Und auch die Westbewohner suchen Rettung vor auffallenden Gegnern, nämlich vor den "antiukrainischen Ostbewohnern, die mos-kaufreundlich gestimmt sind", und sie legen die Macht in die Hände desselben "unverbrüchlichen Blocks".

Erstaunlicher Zufall: gerade in der Zeit der Wahlkämpfe, wenn die Vorhaben der Machthabenden den schönsten sprachlichen Ausdruck finden, verschärfen sich die Widersprüche und Gegensätze bei uns am krassesten. Und weil alle zwei Jahre Wahlen stattfinden, lodern die Widersprüche und Gegensätze sofort wieder auf, nachdem sie sich gerade beruhigt haben. Da hat man vom Klassiker Machiavelli gelernt: Teile und herrsche! Wie, wenn nicht durch den Machiavellismus, wäre die Situation sonst zu erklären, daß die staatliche Elite in den letzten zehn Jahren nichts Bemerkenswertes getan hat, um die Gesellschaft zu integrieren? Mehr noch: Heute beobachten wir die Vereinigungsversuche der in Opposition zum herrschenden Regime stehenden Kräfte, heute erklären die Kommunisten, die vornehmlich den Osten vertreten, daß sie gemeinsame Interessen mit den Nationaldemokraten haben, die vorwiegend im Westen und im Zentrum konzentriert sind. Und das Regime schlägt Alarm: wie könnte es möglich sein, daß ihr euch vereinigt, ihr seid doch so verschieden, ihr seid doch in Wirklichkeit Feinde. Ein Zitat aus der Rede von Leonid Kutschma zum 70. Gedenktag an die Hungersnot von 1932 und 1933 vom Oktober 2002 will ich hier anführen: "Wenn ich sehe, wie sich die Kommunisten unter den alten Fahnen mit den Resten derjenigen vereinigen, die durch die Kommunisten geschädigt wurden, entsinne ich mich der Redensart - wenn Gott jemanden strafen will, nimmt er diesem die Vernunft. Hier wird keine Vernunft genommen, sondern die Fähigkeit, sich zu erinnern. Die Erinnerung an die Unschuldigen, die unter dem roten Banner zu Tode gemartert wurden; die Erinnerung an alle diejenigen, die nicht überlebt haben; die Erinnerung an alle diejenigen, die keine Liebe erfahren haben; die Erinnerung an die Lebenden und an die Ungeborenen. Aber niemand - dessen bin ich sicher - hat das Recht, all dies zu vergessen, wenn er ein normaler Mensch bleiben will." So pathetisch beendete der ehemalige Kommunist und das ehemalige Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU Leonid Kutschma seine Rede. (Überhaupt hätte das heutige Regime Verantwortung für die Entfachung der Feindschaft in der Gesellschaft übernehmen müssen. Aber das ist ein anderes Thema.)

Nicht gerade gut sehen in dieser krassen Gegenüberstellung zwischen West und Ost galizische - anscheinend nationalbewußte und anscheinend "staatliche" - Politiker aus. Das nationale Bewußtsein der älteren Generation unserer galizischen Politiker grenzt ab und an an Borniertheit und Intoleranz: Ein Ostukrainer ist bei ihnen per se prokommunistisch, antinationalistisch und prorussisch, ein Mensch, der keinen ukrainischen Staat haben will und mit "sklavischer Liebe" auf Großrußland blickt. Und genau in diesem Zusammenhang werden sie zu Verbündeten des Regimes, denn sie arbeiten innerhalb der vom Regime gesetzten Koordinaten. Als Wjatscheslaw Tschornowil Anfang der 90er Jahre die These über die föderative Struktur der Ukraine in die Diskussion gebracht hatte, durch die die Interessen einer jeden Region gesichert werden sollten, reagierten galizische Politiker ziemlich negativ, schließlich verstieß dies gegen die Konzeption einer großen, geeinten Ukraine. Tschornowil gab diese These dann schnell auf. Leidenschaftliche galizische Politiker bilden sich auch heute noch ein, daß sie die "Ossis" dazu zwingen können, Ukrainisch zu sprechen und die Lieder der Strelitzen zu singen oder gar, daß sie die Bewohner des Donezker Gebiets in Galizier verwandeln könnten. Derlei Vorhaben stützen das gegenwärtige Regime.

Leider hat uns "das Leben" keine Chancen gegeben, eine Gesellschaft zu schaffen, in der ein "Fremder" zu einem "Unsrigen" geworden wäre und ein "anderer" toleriert und wie "einer der Unseren" aufgenommen werden könnte. Statt dessen hat uns das Leben etwas in der Art gegeben, daß ein "etwas Fremder" zum "Fremden" und gar zum "Feind" wurde, das heißt "Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns". Die Ideologie der Feindschaft hat fraglos die Oberhand über die Idee der Vereinigung gewonnen.

Ungeachtet dessen hat sich die Idee der Vereinigung durch die Dornen historischer Realitäten Bahn gebrochen. Die Idee der vereinten Ukraine war immer Opposition zu dem, was es gab. Oppositionell war diese Idee in der Rzeczpospolita, oppositionell war sie in Österreich-Ungarn, oppositionell im Russischen Reich, in der Sowjetunion, in der Zweiten Rzeczpospolita und unter den Nazis. Oppositionell ist sie auch heute. Denn sie ist Opposition im Prinzip. Die Kultivierung dieser Idee verurteilte ihren Träger nicht nur zu einer marginalen Existenz, sondern brachte ihm auch bestimmte politisch begründete Probleme ein. Zugleich kann man konstatieren, mit welcher Beharrlichkeit sich diese Idee durchsetzte. Die Idee der Kirchenunion mit Rom und darüber hinaus die der Einheit der ukrainischen Kirche wurde von Kiewer Metropoliten ausgearbeitet, und am längsten wurde sie von Galizien unterstützt (wobei Galizien dieser Idee zuvor auch am längsten Widerstand geleistet hatte); der Vater des ukrainischen Nationalismus war der Charkower Nikolai Michnowski, und sein größter Apologet war Galizien; der Vater des ukrainischen Integrationsnationalismus war Dmitri Donzow von Melitopol, und sein Werk "Der Nationalismus" wurde zum ABC der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Die erstaunliche Vereinigung zweier ukrainischer Volksstämme fand Ausdruck in der "Aufklärung", im Zusammenschluß der Ukrainischen und der Westukrainischen Volksrepublik, in "Literarisch-wissenschaftlichen Blättern", schließlich in der einheitlichen ukrainischen Rechtschreibung von Grigori Goloskewitsch. Sie drückte sich in der Missionstätigkeit der ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche unter Metropolit Scheptyzkyj aus. Spuren hinterläßt sie auch in so extremen Ausfällen wie dem Attentat auf A. Majlow, Mitarbeiter des sowjetischen Konsulats in Lwiw, als Protestaktion gegen den Hunger 1933 in der UdSSR. Eines der Erdölbohrlöcher in Borislaw hieß in der Zeit zwischen den Kriegen "Petljura" (Simon Petljura war Begründer der Zentralen Rada in der Ukraine und Führer der nationalistischen Konterrevolution). Aber die "Diktatur des Proletariats" hat alle diese guten Absichten durchkreuzt und unsere Gesellschaft weit zurückgeworfen.

Das 20. Jahrhundert weiß genau, daß man alles und alle trennen oder zusammenbringen kann, wenn man sich dessen bewußt ist, wen man und wozu man etwas trennen oder zusammenbringen will.

Trotz der scheinbaren "Solidarität der Werktätigen", die von den sowjetischen Ideologen proklamiert wurde, hat diese in der Realität eine geteilte Gesellschaft und desintegrierte Individualität gefördert.

Irgendwo im Innern der ukrainischen Gesellschaft wächst trotz alledem das Streben nach Einheit - Einheit mit sich und mit der Welt
 
Trotz permanenter Deklarationen über die proletarische und die internationale Einheit verstanden die sowjetischen Geheimdienste viel zu gut, daß man gerade diese Einheit nicht zulassen darf. Der Betrug derartiger Deklarationen läßt sich leicht anhand der Manipulationen des Massenbewußtseins entlarven - wie beispielsweise der sowjetischen Filmkunst. Es war nicht schwierig, den Filmausgang anhand der "negativen Figuren" im voraus zu bestimmen. Ein Balte war in der Regel Mitarbeiter der westlichen Geheimdienste - dabei freilich intelligent und gebildet. Der Ukrainer war entweder ein dämlicher Speckfresser und Feigling, ein Verräter (und ebenfalls ein Feigling) oder irgendwelche Stepsel-Tarapunka. Sie erinnern sich vielleicht an die sowjetischen Kabarettisten Mirow und Nowitzki, die als Stepsel und Tarapunka Riesenerfolge feierten. Eine "Person kaukasischer Nationalität" wurde benutzt, wenn man einen kaltblütigen Mörder präsentieren mußte. (Nicht zuletzt deshalb wird heute jeder Kaukasier in Rußland oder in der Ukraine als potentieller Verbrecher wahrgenommen.) Der willensstarke, unbestechliche, sich selbst aufopfernde, nach allen Parametern positive Kommissar - das war die klassische Rolle für den Russen.

Oder denken wir an die Witze, ebenfalls ein Mittel, um das Unterbewußtsein der Bürger zu bestimmen: der Moldawier oder der Tschuktsche sind die Lieblingsgestalten der - gar nicht böse gemeinten - Volkswitze, die uns von der "nicht adäquaten Auffassung" oder den geringeren Gehirnkapazitäten eben jener erzählen. Die Zentralasiaten wurden "Holzklötze" genannt, immer waren sie sehr zugänglich, hatten ein verschmitztes, geheimnisvolles Grinsen. Ja, so konnte man einen Staat "steuern".

Ähnliches kann man auch in der Ukraine verfolgen, die sich in die Bandery im Westen (nach Semjon Bandera, dem Führer der ukrainischen Nationalisten) und die Moskaly im Osten (abgeleitet von Moskau) hat spalten lassen - eine Teilung, die auch heute existiert. Und sehr oft jagt uns der eine durch den anderen einen Schrecken ein. Obwohl wir gar nicht so schreckenserregend sind. Wir sind einfach etwas verschieden. Und ziemlich ängstlich. Weil wir von Geburt an erschrocken sind.

Und ganz zum Schluß: Bei der Parlamentswahl im April 2002 schickten die Polittechnologen zwei neue "Pferde" ins Rennen, nämlich "Unsere Ukraine" und "Einheitliche Ukraine". Sie haben etwas Gemeinsames: die Ukraine. Meiner Meinung nach zeugt dies davon, daß das Gefühl der Gemeinsamkeit und der Einheit zu einem Fakt geworden ist, den die Polittechnologen nicht ignorieren können. Trotz der Wünsche der Politiker, die Gesellschaft noch länger in einem atomisierten Zustand zu halten. Irgendwo in ihrem Innern wächst trotz alledem das Streben nach Einheit. Einheit mit sich und mit der Welt.
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Wechselvolle Geschichte - die andere Ukraine

von
Juri Durkot, Journalist, Lwiw


Das Füstentum Galizien- Wolhynien erlebte unter Fürst Danylo ab Mitte des 13. Jahrhunderts eine Blütezeit
 
Die Differenzen zwischen den verschiedenen Landesteilen in der Ukraine sind heute nicht zu übersehen. Dabei wird oft auf die unterschiedliche Geschichte in West und Ost verwiesen. Doch auch der Begriff Westukraine ist diffus und allenfalls geographisch zu deuten - denn hier haben zumindest vier Regionen ihre eigene wechselvolle Geschichte.
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Die konfessionelle Spaltung in der Ukraine und ihre Wurzeln

von
Juri Durkot, Journalist, Lwiw


Die polnische Herrschaft in Galizien brachte der Orthodoxie eine dem Katholizismus untergeordnete Rolle
 
Die Ukrainer sind überwiegend orthodoxe Christen. Allerdings war das religiöse Leben seit der Taufe von Fürst Wladimir im Jahre 988 durch viele Konflikte gekennzeichnet. Kein Wunder für ein Land, das über mehrere Jahrhunderte hinweg geteilt war: oft haben hier die alte ruthenische Orthodoxie und der polnische Katholizismus in gegenseitigen Kämpfen keine Mittel gescheut. Insbesondere im westlichen Teil des Landes, in Galizien, haben die westlichen und östlichen religiösen Einflüsse zur Entstehung einer Mischkonfession geführt: der unierten oder Griechisch-Katholischen Kirche.
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Locus perennis - das geographische Zentrum Europas

von
Juri Durkot, Journalist, Lwiw


Ein Zentrum Europas befindet sich in Dilowe, einem Dorf in den Karpaten. Ein Gedenkstein erinnert an den "locus perennis", den "genauen Ort", neben dem alten k.u.k. Stein wurde ein Stahlpfeiler aufgesetzt
 
Wo beginnt Europa, und wo endet es? Eine Frage, die die Menschen seit Jahrhunderten beschäftigt. Ein Zentrum Europas findet sich in Dilowe, einem Dorf in den Karpaten, aber auch irgendwo in Litauen oder Belarus soll es sein. Für die Bewohner Dilowes allerdings geht die Welt nicht weiter als bis in die Kleinstadt Rachiw, die zwanzig Kilometer entfernt ist.
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Galizien - ein Schmelztiegel vieler Kulturen?

von
Jurko Prochasko, Schriftsteller, Lwiw


Im galizischen Mittelalter gab es fünf große ethnische Gemeinden in Lwiw und sechs Konfessionen. Selbst für Mitteleuropa dürfte dies ziemlich einmalig gewesen sein
 
Galizien - Schmelztiegel von Kulturen, Nationalitäten, Religionen, die mit den unterschiedlichen Herrschern in die Region gekommen und geblieben sind. Und Lwiw gilt als Focus dieses Tiegels, in dem die Grenzen aufgehoben, mindestens aber verwischt sind. Ist dies aber vielleicht nur ein Mythos, eine auf die Zukunft projizierte Vorstellung, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart reicht und das politische und gesellschaftliche Leben der Menschen bestimmt? Kritisch muß man diesen Mythos betrachten, denn neben Zeiten des kulturellen Miteinanders verschiedener Nationalitäten gab es lange Durststrecken der Separation.
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Der Glaube und das kirchliche Leben in der Ukraine

von
Oleh Turij, Leiter des Theologischen Katholischen Seminars, Lwiw


Geopolitische, ethnokulturelle und historische Besonderheiten übten einen wesenlichen Einfluß auf die Entwicklung der Riligiösität aus
 
Das religiöse und das kirchliche Leben in der Ukraine weisen seit der Unabhängigkeit eine Lebendigkeit auf, die Studien zufolge mehr als eine Modeerscheinung zu sein scheint. Doch wird das Land immer wieder auch durch Religionskonflikte erschüttert. Diese werden im Westen vor allem als Konflikt zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche wahrgenommen. Tatsächlich aber zeigt sich, daß die Auseinandersetzungen zwischen den drei orthodoxen und zwischen den beiden katholischen Kirchen viel stärker sind.
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Die Huzulen - ein Volk zwischen gestern und heute

von
Oksana Kis, Ethnologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Völkerkunde der Akademie der Wissenschaften, Lwiw


Die Huzulen sind praktisch nur auf sich selbst und auf die Natur gestellt, mit der sie viele Jahrhunderte in Harmonie und stetigem Kampf lebten
 
Die Huzulen leben seit Jahrhunderten in zerstreut liegenden Dörfern in den schwer zugänglichen Gebieten der Karpaten. Ihre Wirtschaftsformen, ihre Lebensweise, ihre Familienstrukturen, ihre Sitten, Bräuche und Traditionen sowie ihre künstlerischen Ausdrucksformen - im Gesang, im Tanz und im Kunsthandwerk - haben sich seit Jahrhunderten nur wenig verändert. Obwohl sich die Huzulen traditionell als Holzfäller und Bauleute in anderen Regionen und Ländern verdingten, um ein Zubrot zu den kärglichen Familieneinkommen zu verdienen, wurde die Gemeinschaft in den Karpaten davon kaum berührt.
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