Kultur

aus WOSTOK SPEZIAL: Belarus - Im Zentrum Europas
 
Von den Schätzen der altbelarussischen Kunst und Kultur [ Abstract ]
Zu Besuch in Brest - Eindrücke von einer Reise [ Abstract ]
Zwei Utopien - Kunst und Architektur in Belarus [ Abstract ]
Die Rückkehr von Marc Chagall nach Witebsk [ Abstract ]
Slawjanski Basar - wenn "Adler nach Fliegen jagen" [ Abstract ]
Musikmarkt im Land der weißen Störche [ Abstract ]
Der virtuelle Raum des Brauchtums und der Volksfeste [ Abstract ]
Eine belarussische Rarität bedarf staatlichen Schutzes [ Abstract ]
Ein Wunder in Beloweschskaja Puschtscha [ Abstract ]
Bald schon wird es heißen: "Einst waren es nur fünf Säle..." [ Abstract ]
Im Werkstattmuseum von Sair Asgur - die Helden seiner Zeit [ Volltext ]
Kunst des verspäteten Raums - Unveröffentlichtes [ Abstract ]
Polozk und Grodno - die Enden des Regenbogens [ Abstract ]
Im Land der Kartoffel - Belarus kulinarisch [ Abstract ]
Überwindung der Hindernisse - die belarussische Literatur [ Abstract ]
Theater in Belarus - auf der Flucht vor der Realität [ Abstract ]
Die Kunst von Tsesler und Woitschenko [ Abstract ]
Das "gemalte" Paradies belarussischer Wandteppiche [ Abstract ]

Von den Schätzen der altbelarussischen Kunst und Kultur
von
Juri Chodyko, Leiter des Instituts für Physik der Akademie der Wissenschaften, Minsk


Mit Sorgfalt wurde die ethno-
graphische Abteilung zusammen-
gestellt, in der viele Gegenstände des Alltagslebens des belarussischen Dorfes zu bewundern sind
 
Belarus ist wie kaum ein anderes Land dem Einfluß mächtiger Nachbarn ausgesetzt gewesen. Der polnische und russische, später auch der sowjetische Einfluß bestimmte nicht nur Politik und Wirtschaft des Landes, sondern auch die gesellschaftliche und religiöse Entwicklung. Die Belarussen verloren fast ihre Sprache, genommen wurde ihnen ihre Religion, Kunst und Kultur in belarussischer Tradition gerieten in Vergessenheit. In einem kleinen Museum in Minsk sind Zeugnisse und Errungenschaften der altbelarussischen Kunst und Kultur zusammengeführt, die Auskunft geben über das Leben dieses Volkes.
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Zu Besuch in Brest - Eindrücke von einer Reise

von
Britta Wollenweber, Redakteurin der Zeitschrift "Wostok", Berlin


Brest, das Einfahrtstor nach Belarus, wird schon bald Grenzstadt zur EU sein. Noch führt die Stadt ein eher beschauliches Leben
 
Die Stadt Brest ist vor allem natürlich als Grenzstadt zu Polen und historisch ist sie als stark umkämpfte Festungsstadt aus dem ersten und zweiten Weltkrieg bekannt. Demnächst wird Brest eine der wichtigsten Grenzstädte zur EU. Noch scheint die Stadt im Dornröschenschlaf und geht das Leben einen eher beschaulichen Gang. Viel wird noch geleistet werden müssen, dabei sowohl seitens Belarus als auch der EU, damit sich an der nach Osten verlagerten EU-Grenze nicht ein Graben auftut.
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Zwei Utopien - Kunst und Architektur in Belarus

von
Igor Duchan, Leiter der Abteilung für Architektur an der Staatlichen Universität, Minsk


Der Franzisk-Skorina-Prospekt bietet ein ganzheitliches Bild. Harmonisch paßt sich das leicht versetzte KGB-Gebäude ein.
 
Belarus ist ein Land der Weichtöne und der langsamen Reaktionen auf dynamische Wandlungen, es ist ein von der Geschichte und Kriegen gezeichnetes Stückchen Erde und zugleich ein Land zweier großer Utopien, die sich in der Witebsker Avantgarde und einer Straße, dem heutigen Franzisk-Skorina-Prospekt in Minsk, ausdrückten. Mit der Witebsker Avantgarde sind Marc Chagall, Kasimir Malewitsch und El Lissizki verbunden - die Stadt Witebsk war der öffentliche Raum, in dem Kunst, Leben und Gesellschaft stattfanden. Die Utopie des Skorina-Prospekts wird nach der totalen Zerstörung der Stadt Minsk im zweiten Weltkrieg geboren.
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Die Rückkehr von Marc Chagall nach Witebsk

von
Ludmilla Chmelnizkaja, Direktorin des Marc-Chagall-Museums, Witebsk


Marc Chagall wirkte nur kurze Zeit in Witebsk, doch nichtsdestotrotz prägte er das das Witebsker Kunst- und Kulturleben Anfang des 20. Jahrhunderts maßgeblich. Nachdem der Künstler seine Heimat Anfang der 20er Jahre verlassen hatte, wurde er von den Sowjetbehörden totgeschwiegen. Chagall-Arbeiten fanden sich zur Sowjetzeit weder in den Museen der Union, noch wurde das Publikum in anderer Weise mit seinem Werk bekanntgemacht. Erst Anfang der 90er Jahre entdeckte die Heimat des Künstlers ihren großen Sohn wieder. In Witebsk wurden zwei Museen eingerichtet, und jedes Jahr im Sommer lädt die Stadt zu den Chagall-Tagen ein.
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Slawjanski Basar - wenn "Adler nach Fliegen jagen"

von
Dmitri Podberjeski, Musikredakteur der Zeitschrift "Mastaztwa", Minsk


Alljährlich findet im Sommer in Witebsk, der Geburtsstadt Marc Chagalls, ein großes Musik- und Kulturfestival statt, bei dem eine Woche lang ein buntes Programm von Popmusik über Estrade und Folkloremusik bis hin zu Jazz, Theater und Filmaufführungen geboten wird. In den zehn Jahren seiner Existenz hat sich der "Slawjanski Basar", der unter der Schirmherrschaft der Ukraine, Belarus und Rußlands steht, ein eigenes Gesicht gegeben. Für die einen ist es das kulturelle Ereignis des Jahres, für die anderen wenig mehr als eine mit vielen Staatsgeldern gesponserte ideologisierte Werbeveranstaltung für "slawische Kunst und Kultur".
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Musikmarkt im Land der weißen Störche

von
Dmitri Podberjeski, Musikredakteur der Zeitschrift "Mastaztwa", Minsk


Die Gruppe "N.R.M."
 
Die belarussische Musikszene präsentiert sich in den Sparten Rock- und Popmusik sowie Estrade unterschiedlich erfolgreich. Während die Popmusik und die Estrade mehr oder weniger ein schwacher Abklatsch russischer oder westlicher Musik sind, gibt sich die Rockmusik gewissermaßen ein neues Gesicht, auch wenn sich dies teils weit weg vom einheimischen Musikmarkt gestaltet. Neue Namen prägen die "Szene des Untergrunds".
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Der virtuelle Raum des Brauchtums und der Volksfeste

von
Tatjana Goranskaja, Dozentin an der Staatlichen Universität Belarus, Minsk


In der Nacht vom 6. auf den 7. Juli wird in vielen Regionen des Landes das Kupalje-Fest gefeiert
 
Für das Selbstverständnis eines Volkes hat das Brauchtum eine besondere Wichtigkeit, drücken sich darin doch gewachsene nationale und kulturelle Besonderheiten aus. In Belarus werden verschiedene Brauchtumsfeste gefeiert wie das Fest Kupalje, und auch manche alte Hochzeitsbräuche haben wieder einen gewissen Stellenwert. In den einzelnen Regionen des Landes werden die Feste mit zum Teil recht unterschiedlichen Akzenten begangen, nur die wenigsten Belarussen richten sich allerdings strikt nach den alten Überlieferungen. Einige Feste drohen verloren zu gehen. Interessanterweise greifen in den letzten Jahren zumeist junge Musiker verstärkt auf Elemente alter Volkslieder und -tänze zurück, arrangieren diese neu beziehungsweise verknüpfen sie mit moderner Musik.
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Eine belarussische Rarität bedarf staatlichen Schutzes

von
Igor Duchan, Leiter der Abteilung für Architektur an der Staatlichen Universität, Minsk


In der malerischen Umgebung von Minsk liegt das Belarussische Staatliche Freilichtmuseum für Volksarchitektur und Lebensweise, ein Ort, der die traditionelle und "kleine" Heimat der Belarussen angesichts fortschreitender Modernisierung von Lebenswelt für die Nachwelt erhalten will. Das Museum ist mit mannigfaltigen Problemen konfrontiert, hat aber große Erwartungen an die Zukunft.
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Ein Wunder in Beloweschskaja Puschtscha

von
Tatjana Komonowa, Mitarbeiterin der Zeitschrift "Kultura", Minsk


Beloweschskaja Puschtscha, das größte Nadel- und Laubwaldgebiet Europas, zieht viele Naturfreunde an
 
Den Namen "Beloweschskaja Puschtscha" verbinden viele Menschen mit dem Ort, an dem Ende 1991 von Stanislaw Schuschkewitsch, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk die Auflösung der Sowjetunion beschlossen und verkündet wurde. Der alte Nomenklaturasitz inmitten des riesigen Biosphärenreservats steht heute dem Publikum offen, ist aber aufgrund der Einmaligkeit des gesamten Naturschutzgebietes und den vielen Entdeckungen, die es dort zu machen gilt, nur noch eine Attraktion am Rande. Das größte Nadel- und Laubwaldgebiet Europas bietet heute den beinahe ausgestorbenen Auerochsen wieder eine Heimat.
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Bald schon wird es heißen: "Einst waren es nur fünf Säle..."

von
Wladimir Prokoptsow, Direktor des Nationalen Kunstmuseums, Minsk


Museumsgeschichte ist in Belarus in diesem Jahrhundert mit Kriegsgeschichte verbunden - die deutschen Besatzer nahmen große Teile der Sammlungen mit, viele Reichtümer fielen den Zerstörungen zum Opfer. Der Neuanfang der Sammlung des Nationalen Kunstmuseums in Minsk kann stellvertretend für viele Museen erzählt werden. Viel wurde in den letzten über fünfzig Jahren geschaffen, neue Abteilungen wurden aufgebaut. Heute besitzt das Museum 15000 Exponate belarussischer Kunst. Hoffnungsvoll erwartet man den weiteren Ausbau zum größten Museumskomplex des Landes.
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Im Werkstattmuseum von Sair Asgur - die Helden seiner Zeit

von
Marina Tarakanowa, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Asgur-Werkstattmuseums, Minsk


Mitten in Minsk liegt etwas versteckt das im Februar 2000 eröffnete Werkstattmuseum des belarussischen Bildhauers Sair Asgur. Das Gedenken an den großen belarussischen Steinkünstler und Volkskünstler der UdSSR wird in diesem Haus von einem fast reinen Frauenteam mit Liebe und wissenschaftlicher Kompetenz gepflegt. Im Plastikensaal kann sich der Besucher mit 300 Größen der Zeitgeschichte, mit alten Philosophen, Dichtern und Musikern, aber auch mit jungen Helden bekannt machen.

Das Museum des bedeutenden belarussischen Bildhauers und Porträtisten des letzten Jahrhunderts Sair Asgur - er lebte von 1908 bis 1995 - wurde erst vor kurzem in Minsk eröffnet. Die einmalige Exposition beeindruckt sowohl den Kenner als auch den Laien zutiefst. Stellen Sie sich einen riesigen hohen Saal vor, in dem Sie von allen Seiten von auf Stellagen und Stelen stehenden Plastiken angesehen werden. Insgesamt sind es ungefähr 300 historische Persönlichkeiten, Kulturschaffende, Dichter und Denker verschiedener Zeiten und Völker. Der Dichter und Philosoph der Renaissance Gussowski stützt sich auf das "Lied vom Auerochsen"; Roosevelt lächelt verhalten ironisch; Churchill hebt sarkastisch eine Augenbraue; Stalin ist just dabei, sich aus dem Sessel zu erheben; Plastiken von Lenin und Marx… Plastiken, Plastiken, Plastiken.

Durch das Werkstattmuseum von Sair Asgur in Minsk kann sich jeder Besucher seinen eigenen Weg suchen
 
Die Plastiken des 20. Jahrhunderts sind eine nach Form und Inhalt interessante Erscheinung. Für den Kunstkenner lassen sich dort Merkmale der "großen" Kunststile - Klassizismus, Romantik, griechische Antike - in moderner Interpretation entdecken. Ein an Geschichte Interessierter wird in dieses Museum kommen, um noch einmal die Gesichter der bedeutenden historischen Persönlichkeiten vom Mittelalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu studieren, die Instrumente in der Hand und Vollstrecker der Geschichte waren. Und dem Literaturfreund werden sicherlich einige ihm aus der Kindheit erinnerlichen Zeilen bekannter Werke einfallen, wenn er die großen Literaten betrachtet, die - so scheint es - beim Modellsitzen freundlich mit dem Bildhauer scherzten.

Das Gebäude des heutigen Museums wurde 1984 nach Entwürfen des belarussischen Architekten Wolmen Aladow als Werkstatt gebaut. Dort arbeitete Sair Asgur in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem Tode 1995. Er sammelte Werke, Dokumente, Erinnerungen. Er träumte davon, daß nach seinem Tod in diesen Wänden Zeugnis abgelegt werde von einem überaus komplizierten und widersprüchlichen Zeitalter. Dieses Zeitalter ist in den Gesichtern abgebildet, die dem Bildhauer teuer waren, ihn interessierten und bewegten.

Fünf Jahre nach seinem Tod wurde das Museum am 15. Februar 2000 für Besucher geöffnet. Die Exposition erstreckt sich über alle Räume des Museums. Die Besucher werden am Eingang vom ehemaligen Hausherrn selbst begrüßt. Unter seinem riesigen Foto finden sich die Zeilen des Dichters Jakob Chelemski:

…viel sah der Alte. Pompöse Einweihung der Plastiken, Und deren Sturz in Hast…

Der Hausherr des Ateliers, Volkskünstler und ordentliches Mitglied der Akademie der Künste hat viel erlebt. Davon zeugen die im Gedenksaal ausgestellten Bilder, Dokumente und Briefe. So blickt uns aus dem Bild des Künstlers Gawriil Gorelow ein junger energisch wirkender Mann an. Ein anderes Bild zeigt ein in Gedanken versunkenes, müdes Gesicht, die abgearbeiteten Hände auf den Knien - eine Minute Ruhe während der großen Arbeit. So sahen Asgur diejenigen, die ihn in den schrecklichen Jahren des zweiten Weltkrieges in seiner Werkstatt in Moskau besuchten. Minsk war besetzt. Daneben sieht man - wie es sich in einem guten Haus gehört - das Bild einer Frau, einer schönen, milden, ruhigen, behutsamen Frau. Es ist seine Ehefrau und Gefährtin - die Landschaftsmalerin Galina. Ihre Gemälde schmücken das Zimmer, in dem der Künstler seine kurzen Ruhepausen verbrachte, und den sogenannten Konferenzsaal, in dem häufig und in großer Runde und immer lebhaft die Geschicke der belarussischen Kunst und Literatur diskutiert wurden. Die Freunde und Schüler Asgurs erinnern sich voller Herzlichkeit an die Abende in der Werkstatt.

Auf anderen Bildern des Künstlers Juri Gorelow sind die Eltern des Bildhauers - Isaak und Sara - abgebildet. Der Vater, Fuhrwerkskutscher aus dem kleinen Dorf Mossory im Gouvernement Witebsk, konnte sich nur vier Jahre über den kleinen Sair freuen. Nach dem Tod ihres Mannes zog Sara Ruder, die mit drei Kindern allein geblieben war, nach Witebsk, um Arbeit zu finden.

Der künftige Bildhauer hatte Glück! Sein Werdegang als Mensch und Künstler erfolgte im Witebsk der 20er Jahre, mit seinem einmaligen und für einen kreativen Menschen überaus förderlichen künstlerischen Klima. Hier wurden der Welt viele hochtalentierte Künstler geschenkt. Damals wirkten dort Marc Chagall, Kasimir Malewitsch und Juri Pen, ein aufgrund seiner Bescheidenheit, Begabung und seinem pädagogischem Talent erstaunlicher Mensch, Künstler und Gründer der Witebsker Kunstschule.

Pen absolvierte die St. Petersburger Akademie der Künste und war Förderer und Unterstützer seiner talentierten Schüler. Chagall nannte ihn seinen Lehrer. Nach der Vorbildung bei Pen nahm Asgur mit vierzehn Jahren das Studium an der künstlerisch-handwerklichen Hochschule in Witebsk auf. Zunächst einmal studierte er bei dem angesehenen Bildhauer M. Kersin - einem Vertreter der akademischen Richtung der Bildhauerei und späteren Professor an der St. Petersburger Akademie der Künste. Nur wenig später wurde Asgur an die Akademie der Künste an der Newa geschickt und studierte dort bei herausragenden Bildhauern der realistischen Richtung. Er reiste nach Kiew, dann nach Tbilissi zu A. Nikoladse, einem Schüler des großen französischen Bildhauers Rodin. Es war eine recht unruhige Zeit des Reisens, der Suche nach seiner eigenen Identität und dem eigenen Stil. Es war die Zeit, an die sich der Künstler in seinen Memoiren mit besonderer Liebe erinnerte. Es war auch eine Zeit, in der er viele Menschen traf, die er in seinen Werken und seinen Erinnerungen festhielt.

Auf alten Fotos können wir uns mit dem Frühwerk Asgurs vertraut machen - Studentenübungen und Porträts. Hierzu zählen auch einige Bilder wichtiger belarussischer Denker der Renaissance und seiner Zeitgenossen - Politiker und Künstler. Interessant ist das Bild eines Kutschers, in dem sich der gleiche Prototyp wie im Bild "Der Mensch mit dem grünen Gesicht" von Chagall erkennen läßt. Die bildhafte Sprache Chagalls war Asgur aber nicht vertraut, schließlich dominierte in seinem Werk der Realismus. Asgur schätzte jedoch das Talent seines Landsmanns und wollte eine Plastik des Künstlers schaffen. Doch wurde diese Arbeit nie ausgeführt… im Plastikensaal steht eine Töpferscheibe mit einem vorbereiteten Lehmblock.

Seinen ersten Auftrag erhielt der Bildhauer mit sechzehn Jahren. Es handelte sich um die Plastiken der belarussischen Volksdichter Janka Kupala und Jakub Kolas. Es war ein ernster und schwieriger Auftrag, der seinem Alter sicher nicht entsprach. Dies belegt jedoch nur sein Talent, das schon in diesem frühen Alter zum Ausdruck kam. Der junge Asgur hatte damals natürlich noch keine eigene Werkstatt und mußte zum Arbeiten ins Haus seiner "Modelle" gehen. Ein Kasten mit Lehm auf dem Rücken, eine Drehscheibe unterm Arm - das ist die ganze Werkstatt, den Schemel leiht er sich im Haus aus. Zunächst einmal wurden seine Werke einer strengen Beurteilung seitens der Familien der beiden Volksdichter unterzogen. Allem Anschein nach waren die Plastiken gelungen: Kupala und Kolas pflegten bis zu ihrem Tode freundlichste Beziehungen zum Bildhauer. Der junge Asgur hatte hier sicherlich immens großes Glück: Er wurde durch die Kontakte zu den älteren Literaten, die ihm freigebig ihre Kenntnisse, ihre Lebenserfahrung und Treue zur Sache mitteilten, geistig und menschlich reicher.

Viele Menschen, die er modellierte, wurden seine engsten Freunde und blieben es bis zu ihrem Tode. In den schrecklichen Jahren der Stalinschen Repressalien machten die unermeßlichen Verluste auch um das bescheidene Atelier des Bildhauers keinen Umweg. Im Zuge der Repressionen wurden beinahe alle Angehörigen der kulturellen Elite der Belorussischen SSR erschossen. Asgur wurde gezwungen, über vierzig Plastiken von Personen zu vernichten, die der Elite angehört hatten. Zufällig blieben aber Fotos von diesen Werken erhalten - und zwanzig Jahre später ließ der Bildhauer die Gesichter der Menschen, die ihm teuer waren und deren Tod der belarussischen Kultur unermeßlichen Schaden zugefügt hatte, neu erstehen. Viele Arbeiten wurden zudem während der deutschen Besatzung von Minsk im zweiten Weltkrieg zerstört. Asgurs Atelier wurde verwüstet. Mit einem Bildband unter dem Arm verließ der Bildhauer die bereits brennende Stadt.

In den ersten und besonders schweren Jahren arbeitete er als Künstler bei einer antifaschistischen Zeitung. 1942 stellte die Sowjetregierung dem Bildhauer eine Werkstatt in Moskau zur Verfügung und beauftragte ihn, eine Galerie der Kriegshelden - Berufsoffiziere und Partisanen - zu schaffen. Dieser Plastikenzyklus, der unter extrem schwierigen Bedingungen geschaffen wurde, gehört zu den Spitzenleistungen Asgurs. Der Bildhauer gab den Elan und den Glauben an den Sieg in den Gesichtern der noch ganz jungen Menschen wieder, die sein Atelier verließen, um zum Kampf für die Heimat an die Front zu gehen. Sie sind im Saal des Museums neben den Skulpturen bedeutender Heerführer - Marschälle und Generäle - zu sehen. Die Gefallenen sind nicht mehr unter uns. Aber das Andenken an sie vermittelt uns der Bildhauer. Die Skulpturen strahlen den immer lockenden Zauber der Jugend aus. Wenn wir in diese jungen Gesichter sehen, denken wir daran, daß wir ihnen dankbar dafür sein müssen, daß wir heute leben. Die lebendige, bebende Formung der Plastiken unterstreicht dieses Gefühl. Man hat den Eindruck, daß sie alle noch am Leben sind: So lebensfrohe und bezaubernde Menschen können nicht einfach so ins Nichts übergehen. Solange wir an sie denken, leben sie…

1944 kehrte Asgur nach Minsk zurück. Die Stadt lag in Schutt und Asche. Das Leben mußte völlig neu eingerichtet werden. Die Kriegshelden wurden durch neue Helden abgelöst. Wie soll der Bildhauer mit den Mitteln der Kunst seine Begeisterung über ein junges Mädchen formulieren, das so hart gearbeitet hat, daß ihre Leistungen mit dem Titel "Held der Arbeit" ausgezeichnet wurden? Asgur sucht nach Ausdrucksmitteln, um das Dorfmädchen in eine Kore zu verwandeln, und findet sie. Seine Kraft und Konstitution gestatten ihm, voller Stolz jede beliebige körperliche Arbeit zu verrichten.

Daneben stehen im Expositionssaal die Büsten bedeutender belarussischer Akademiemitglieder, deutscher Philosophen, deren Werke Asgur in den letzten Jahren studierte, großer Komponisten, deren Musik dem Bildhauer am Herzen lag, antiker und moderner Dichter, deren Zeilen die feinfühlige Seele des Künstlers zu verschiedenen Zeiten bewegten.

Die Plastiken sind in Gruppen im Halbkreis aufgestellt. Die Abwechslung verhindert, daß die Ausstellung eintönig wirkt, sie setzt ausdrucksvolle Sinnakzente. Mittendrin findet sich das "Familieneckchen" - dazu zählt auch ein Selbstporträt.

Das Museum läßt dem Besucher alle Freiheiten, sich seinen Weg durch das Museum und den Expositionssaal zu wählen. In aller Ruhe kann man zwischen den Plastiken umherschlendern, bekannte Gesichter entdecken und sich die mit ihnen verbundenen historischen Ereignisse ins Gedächtnis rufen. Man kann über die Leiter hoch hinauf auf die Galerie im zweiten Stock steigen und von dort aus die ganze Ausstellung mit einem Blick überfliegen - ein phantastischer Anblick. Ist man dann wieder auf dem Boden, wird man bei einem zweiten Rundgang von Plastik zu Plastik das, was man nur kurz zuvor gesehen hat, neu oder anders bewerten. Man kann die stilistischen Neuerungen im Schaffen von Sair Asgur in den Jahrzehnten nach dem Krieg erkennen und den Reichtum und die Vielfalt seiner Arbeit beurteilen. In einem kleinen Zimmer, wo die Tonmodelle in Gips übertragen wurden, kann man sich über die Herstellung von Plastiken informieren und die Werkzeuge des Bildhauers bewundern. In der Privatbibliothek des Künstlers mit insgesamt etwa 1000 Büchern lassen sich viele Werke mit Widmungen der Autoren entdekken. Dort spürt man noch einmal neu die Anwesenheit des Hausherrn, dessen schöpferischer Geist sorgfältig gepflegt wird.

Sair Asgur lebte ein langes Leben voller stürmischer Ereignisse. Er war Augenzeuge und Teilnehmer vieler historischer Ereignisse, an denen es im 20. Jahrhundert nicht fehlte. Er war ein von der Natur reich beschenkter Mann und leistete viel durch seine Arbeitsamkeit. Er hat über 1000 Werke geschaffen und äußerst interessante Memoiren verfaßt, in denen die Bilder derjenigen, die dem Bildhauer geistig nahestanden, nicht mit Meißel und Spachtel entstanden, sondern aus der Feder geflossen sind. Der Bildhauer vermochte es, nicht nur das äußere Bild und die sich darin widerspiegelnden Besonderheiten seiner Zeitgenossen einzufangen, sondern uns auch ihre Stimmen, Ansichten und Überzeugungen zu überliefern. Asgur begeisterte sich über die Helden und über die Zeit, in der er lebte und arbeitete, sowie über das Leben selbst. Und diese Begeisterung prägt auch die Plastiken, die er uns freigebig hinterlassen hat.
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Kunst des verspäteten Raums - Unveröffentlichtes

von
Michail Borasna, Dozent an der Staatlichen Akademie der Künste, Minsk


Informationen über Künstler und ihre Werke erhält man eigentlich nur direkt in den Ateliers. Veröffentlichungen sucht man in den Buchhandlungen meist vergeblich
 
Wer kennt im Westen schon die junge (moderne) Kunst der Republik Belarus, sieht man einmal von der recht provokatorischen Plakatkunst, die sich schon zur Sowjetzeit ausgebildet hat, ab? Die belarussische Kunst ist verhalten, wie das Land und seine Menschen. Es gibt nicht die Superkunst, die die Weltöffentlichkeit in Erstaunen versetzt - und versetzen soll. Aus der Isolation geboren (der künstlichen wie der Selbstisolation) entwickelt sich Erstaunliches, das es bei uns noch zu entdecken gilt.
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Polozk und Grodno - die Enden des Regenbogens

von
Tamara Gabrus, Mitarbeiterin der Belarussischen Akademie der Künste, Minsk


Am Jesuitenkollegium und an der Erlöser-Verklärungskirche spiegelt sich die wechselhafte Geschichte der Stadt wider
 
Architektonische Spurensuche in Belarus ist schwierig: Fielen einerseits aufgrund der traditionellen Holzbauweise immer wieder ganze Stadtteile Bränden zum Opfer, wurden andererseits während der kriegerischen Auseinandersetzungen auf belarussischem Territorium viele alte Baudenkmäler zerstört. Den Höhepunkt markiert sicher die fast vollständige Zerstörung Minsks im zweiten Weltkrieg. Belarus hat eine eigene Architektur hervorgebracht, die aber stets offen war für Einflüsse von außen. Berühmt war die Polozker Bauschule im 11. Jahrhundert, bekannt war die Grodnoer Verteidigungsarchitektur. War Grodno auch kurze Zeit Königssitz des polnisch-belarussisch-litauischen Staatenbundes, wurde Polozk mit der Ansiedlung des Jesuitenkollegiums im 17. und 18. Jahrhundert geistiges und intellektuelles Zentrum.
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Im Land der Kartoffel - Belarus kulinarisch

von
Borislaw Gussinski, Journalist, Minsk


Die wichtigsten Zutaten für belarussische Gerichte
 
In kulinarischer Hinsicht bietet Belarus eine Fülle von Spezialitäten, für die ähnliche Zutaten verschieden kombiniert und variiert werden, so daß eine erstaunliche Vielfalt von Gerichten entsteht. Fleisch, Gemüse sowie Getreide- und Milchprodukte bilden den Grundstock für die meisten Rezepte. Großer Beliebtheit erfreut sich die Kartoffel, was den Belarussen in der GUS den Spitznamen "Bulbaschi" eingetragen hat. Auf dem Land werden viele Produkte, die Städter vor allem aus industrieller Produktion konsumieren, noch selbst hergestellt. Dazu zählen Käse, Quark und Brot.
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Überwindung der Hindernisse - die belarussische Literatur

von
Valentina Kowtun, Schriftstellerin, Minsk


Eine Fundgrube für Literaturfreunde ist das Museum für Buchkunst, in dem es von Bindemaschinen und Papierpressen bis hin zu Büchern vieles zu entdecken gibt
 
Die belarussische Geschichte wurde im 20. Jahrhundert von einigen besonders wichtigen Faktoren geprägt. Dazu zählen der Aufbau des Sowjetsystems und die Sowjetisierung der Menschen, der zweite Weltkrieg, der den Verlust unermeßlich vieler Menschenleben mit sich brachte, die Havarie des Atomkraftwerkes Tschernobyl, die Erlangung der Unabhängigkeit und die ab 1995 folgende Errichtung einer starken Präsidialmacht. Die moderne belarussische Sowjetliteratur hat vor allem als Antikriegsliteratur in die sowjetische Gesellschaft hineingewirkt und Prozesse des Umdenkens befördert. Waren die Schriftsteller zu Sowjetzeiten der Zensur unterworfen, so scheint heute von der politischen Führung ein neues Feindbild aufgebaut zu werden, das der Intelligenz, die in Opposition zur Macht steht.
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Theater in Belarus - auf der Flucht vor der Realität

von
Tatjana Komonowa, Mitarbeiterin der Zeitschrift "Kultura", Minsk


Die Theaterkunst in Belarus hat eine lange und eigenständige Tradition. Über die Jahrhunderte wurde die belarussische Kultur stark von der polnischen, russischen und zuletzt sowjetischen Kultur beeinflußt. Und so ist das Theater des jungen unabhängigen Landes heute gefordert, neue Wege zu beschreiten. Heute sucht es seine Wurzeln in der heidnischen Kultur. Zurückgegriffen wird dabei auch auf die wieder entdeckte belarussische Geschichte. Während sich die Dramenregisseure dabei offensichtlich schwertun, entwickelt sich in der Komödie, der Farce und dem Melodram Interessantes, und erleben vor allem die Puppentheater einen Aufschwung. Während sich die belarussischen Schauspieler eines ausgezeichneten Rufes erfreuen, bietet das Land bei den Regisseuren von wenigen Ausnahmen abgesehen nur Durchschnittliches.
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Die Kunst von Tsesler und Woitschenko

von
Tatjana Bembel, Kunstkritikerin, Minsk


Weit über Belarus hinaus haben die beiden Künstler Sergej Woitschenko und Wladimir Tsesler einen guten Namen in der Kunstwelt. Bereits seit Mitte der 70er Jahre kennen sich die beiden unkonventionellen Absolventen der Abteilung für Design der Kunstakademie in Minsk und befördern und inspirieren sich gegenseitig. Sie sind Universalisten, lassen sich in keine Schublade pressen und keinem Genre so richtig zuordnen. Stets sind die Übergänge fließend, nutzen sie in der Plakatkunst entwickelte Verfahren für ihre Werbeaufträge und lassen sie handwerkliche Meisterschaft in Installationen und Objekte fließen.
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Das "gemalte" Paradies belarussischer Wandteppiche

von
Tatjana Goranskaja, Dozentin an der staatlichen Univesität, Minsk


Märchenhafte Sujets, Tierdarstellungen und Blumenarrangements meist auf dunklem Hintergrund machen den Reiz der gemalten Wandteppiche aus
 
In Belarus wendet man sich wieder verstärkt der Volkskunst zu. Natürlich gab es schon immer die Strohflechterei. Wunderbare Stickereien und Keramikwaren aus belarussischen Manufakturen waren stets ein beliebtes Mitbringsel. Nun entdeckt man auch die gemalten Wandteppiche wieder, ein Genre, das lange Zeit als Kitsch abgetan wurde. Die Sujets sind häufig ein wenig "mystisch" angehaucht - es sind Lebensbäume, Märchen- und Phantasiebilder, bei denen stets das Schöne und das Gute im Vordergrund stehen.
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