Vorwort


Deutsch-Russische Spiegelungen an der Jahrtausendwende

Prof. Dr. Jakow Drabkin, Leiter des Forschungszentrums für Deutsche Geschichte am Institut für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau
Der Leser wird in der Überschrift wohl sofort eine Anlehnung an das "Wuppertaler Projekt" von Lew Kopelew erkennen. Und er hat Recht. Auch dann, wenn er vermerkt, daß jeder Markstein der Geschichte einen neuen Vorwand für Historiker bietet, wieder einmal von sich hören zu lassen.
Das Jahr 2000 ist eigentlich nicht der Beginn des neuen Jahrhunderts und Milleniums, sondern das Ende der vorausgegangenen. Und die Menschheit bekommt eine wunderbare, früher nie erkannte Gelegenheit, dieses Jahr zu nutzen, um sich von Schmarotzern zu befreien, sich geistig zu reinigen, und so wenigstens manches Böse und Ungerechte in Vergangenheit und Gegenwart nicht mit in die Zukunft zu schleppen. In diesem Sinne verstehe ich das Jahr 2000 als ein Geschenk für Historiker, deren Pflicht es ist, die Vergangenheit (alias Geschichte) zu bewältigen, das heißt zu begreifen und zu deuten.

Ich folge gerne der Wahrnehmung Puschkins, der, kurz vor der Wende zum 18. Jahrhundert geboren, im Mannesalter zu der optimistischen Einsicht gelangt war:
Etwa vor fünf Jahren habe ich an dieser Stelle konstatieren müssen, daß die durch zwei Weltkriege erzeugten und dann durch den "kalten Krieg" vertieften gegenseitigen Feindbilder von Russen und von Deutschen nicht von selbst verschwinden werden. Die im Wechselverhältnis entstandenen tiefen Furchen und Risse können nur Schritt für Schritt durch Kontakte und Diskurse überbrückt werden. In bezug auf die deutsch-russischen Beziehungen und Verbindungen in Politik, Wirtschaft, Kultur wie auch im Privatleben läßt sich meines Erachtens das Fazit dieser Jahre in einem lapidaren Satz zusammenfassen: Die durch Gorbatschows Durchbruch und die Vereinigung Deutschlands entstandene Euphorie ist vorbei. Jedoch auch unter erschwerten Umständen und trotz mancher unliebsamer Erfahrung bleiben für unsere beiden Länder ihre Schicksalsgemeinschaft und Wahlverwandtschaft Gebote der Gegenwart und Wegweiser in die Zukunft.

Die neuerstandenen Hindernisse und Mißverständnisse kommen meines Wissens deutscherseits manchmal in bösartigen Stichworten zum Ausdruck wie "Tschetschenien", "russische Mafia", "Unberechenbarkeit" oder gar neulich in der Bezeichnung des heutigen Rußlands als einer Herrschaft "Tschingis Khans mit Computern". Für mich als einem Fachhistoriker bleibt trotz alledem außer Frage, daß eine Verständigung und gegenseitige Annäherungen für beide Seiten notwendig, möglich und nützlich bleibt. Nun hat heute eine gemeinsame russisch-deutsche Historikerkommission sich zur Aufgabe gemacht, mehrere Forschungsprojekte und Veröffentlichungen, die eine bessere Einsicht in die Geschichte geben werden, zu koordinieren. Sie versucht, den Forschern zu erleichtern, an Archivquellen heranzukommen, und will Ergebnisse in beiden Ländern publizieren. Jedoch bleiben immerhin Schwierigkeiten, die zu überwinden sind.

Als ein Vorbild fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft von Geisteswissenschaftlern kann das 1982 von Lew Kopelew gegründete grandiose "Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Feindbilder" dienen. Heute liegen die Ergebnisse vieler Mühe fast fertig vor: sechs großartige Bände sind gedruckt, vier weitere sind halbfertig oder in Vorbereitung. Darüber hinaus hat unter der Leitung von Karl Eimermacher die Arbeit an der Fortsetzungsreihe über Deutsche und Russen im 20. Jahrhundert bereits begonnen. Da in dieser Zeitspanne die deutsch-russischen Entwicklungen maßgeblich von vielschichtigen Faktoren der Weltgeschichte beeinflußt werden und besonders konfliktreich und dynamisch verlaufen, bedarf die Konzeption der neuen Reihe weiterer öberlegungen, Forschungen und Diskurse.

Was mich aber besonders nach dem Tode Lew Kopelews bedrückt und deprimiert, ist das Scheitern aller Versuche, eine russische öbersetzung des in den Bänden des Wuppertaler Projekts konzentrierten riesigen Kulturschatzes in Gang zu bringen. Die Herausgabe wenigstens einer Auswahl könnte meiner Ansicht nach ein russisch-deutsches Konsortium subventionieren, das sich leider bisher nicht gegründet hat. Meine mehrfachen Appelle (auch in "Wostok") blieben bislang unerhört. Nun steht die russische Ausgabe eines bescheidenen Pilot-Heftes "Lew Kopelew und das Wuppertaler Projekt" in nächster Aussicht. Wird das möglicherweise der Auftakt für das größere Vorhaben werden?


Prof. Dr. Jakow Drabkin
Leiter des Forschungszentrums für Deutsche Geschichte am Institut für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau
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